Sielroute
… auf der Karte
… in Bildern
… in Worten
Autos. Vor uns stehen lauter Autos. Hinter uns auch. Und neben uns ebenso. Stünden wir nicht dazwischen, wäre es zumindest schon mal eines weniger. Stehen wir aber nicht. Wie all die anderen auch zieht es auch uns Ostern von Zuhause weg. Und so kommt es, dass wir Gründonnerstag unseren Beitrag zum Stau auf der A3 leisten. Zwischen dem Autobahndreieck Köln Rath/Heumar und Leverkusen. Dann steht die A1 auf dem Programm. Richtung Dortmund/Unna. Zwei Stunden. Schafft man auch in einer. Sogar ohne Überschreitungen der Geschwindigkeitsbegrenzungen. Und Karfreitag geht es weiter. Im Stau. Weiter Richtung Norden. Diesmal kostet es uns zwei Stunden, bis wir an Osnabrück vorbei kommen. Gut, dass wir nicht in Eile sind. Wollen erst Samstag mit dem aus eigener Kraft starten, was auf umgeklappten Sitzen und im Kofferraum hinter uns liegt. Unsere Räder. Und Taschen. Packtaschen. Packtaschen, in denen sich ein Zelt, zwei Schlafsäcke, zwei Luftmatratzen und das ganze Gedöns befindet, das wir einstecken, wenn wir davon ausgehen, über Nacht kein festes Dach über dem Kopf zu haben. Dazu die Reste, die uns Rüdiger und Birgit mit auf den Weg gegeben haben. Frikadellen, Nudelsalat und mehr. All das, was wir nicht geschafft haben uns einzuverleiben, nachdem wir in Unna die Autobahn verließen, um Abends ein wenig zu zocken, sprich Karten zu spielen, zu quatschen, herum zu blödeln und uns den Bauch voll zu schlagen. Sie waren, die Hackfleischbällchen, gefüllt mit Feta. Aber es waren zu viele. Doch egal, es fand sich ja eine Lösung. Morgens schließlich noch ganz gemütlich frühstücken zu Zeiten, zu denen manch anderer den Mittagstisch schon wieder abräumt und dann, anstatt auf der Couch der Siesta zu frönen, wieder zurück hinters Lenkrad. Ohne Eile. Bringt ja nichts. Der Himmel ist grau, die Scheibenwischer schieben die Regentropfen auf der Scheibe hin und her, immer wieder neue - und den anderen, vor, neben und hinter uns, denen ergeht es auch nicht besser. Ob sie auch damit leben können, dass wir nur im Schneckentempo vorankommen? Auf einem Polo neben uns ist ein Dachgepäckträger befestigt. Drei paar Skier drauf. Ebenso viele Leute sitzen im Wagen. Bin neugierig. Hab ja sonst nichts zu tun. Drücke auf den Knopf, der die Seitenscheibe in der Tür verschwinden lässt und gestikuliere mit der Linken. Soll aussehen wie die Handbewegung, mit der man früher die Kurbel betätigte, um gleiches zu erreichen. Ernte dafür zunächst verständnislose Blicke, doch dann versteht man. Senkt auch das Fenster. Auf der Beifahrerseite. Insassen, die vom Alter her meine Kinder sein könnten. Kennen sie das überhaupt noch, manuelle Fensterheber? Egal, darum geht es gar nicht, schießt mir aber so durch den Kopf. Wohin es den gehe? Zeige auf die Bretter auf dem Dach. Die Mienen werden freundlicher. Nach Norwegen. Zeige den empor gerichteten Daumen. Weiß noch nichts davon, dass im Süden des Landes die Voraussetzungen, fahrbaren weißen Untergrund zu finden, ungünstig sind. Eine Gegenfrage bringt mich davon ab sie in Stress zu bringen, ob sie genügend Zeit eingeplant haben, um die Fähre zu erreichen. Aber vielleicht fahren sie ja auch über Schweden. Öresundbrücke. Ob das schneller ist? Keine Ahnung. Meine Gedanken schweifen ab in den Norden Dänemarks, nach Hirtshals, wo Fähren nicht nur nach Island, sondern auch nach Norwegen ablegen. Läuft alles wie geplant, sollte ich in acht Wochen da sein. Doch zunächst steht da die Frage über die Fahrbahnmarkierung hinweg im Raume, wohin es bei uns gehe. Noch ist es nicht so weit, das Land zu verlassen. Bremen, gebe ich zum Besten. Mit den Rädern Richtung Jadebusen. Der Daumen meiner rechten Hand wechselt die Position. Federt zweimal am gebeugten Arm gen Rückenlehne. Das wir der Sielroute folgen wollen, erspare ich den jungen Leuten. Ernte trotzdem die Geste, mit der auch ich zuvor gutes Gelingen zum Ausdruck bringen wollte. Dann spreizen sich die Finger, wir zeigen einander die Handinnenflächen, wünschen auch auf der Tonspur nochmals alles Gute, die Fenster schließen sich und jeder geht, beziehungsweise fährt, seiner Wege.Enden tut der unsere auf einem Parkplatz am linken Weserufer. Vor uns der Fluss, zur Rechten die Strandgaststätte "Schöne Aussicht", dahinter Parzellen, auf denen Wohnwagen stehen. Da wir keine Rezeption finden, betreten wir das Restaurant. Macht schon einen etwas betagteren Eindruck, soll uns aber nicht weiter stören. Die Bedienung hinter dem Tresen konfrontieren wir mit unserem Anliegen. Dass wir für eine Nacht unser Zelt aufstellen wollen. Die Antwort, die wir erhalten, ist nicht die, die wir hören wollen. Nee, geht nicht. Ist kein öffentlicher Campingplatz mehr. Nur noch für Dauercamper. Na super! Die erste Planung für eine Tour über das Feiertagswochenende sah die Emscherparkrunde vor. Hätten wir von unseren Freunden in Unna direkt von der Haustür aus starten können. Gute 200 Kilometer durch das Ruhrgebiet, bis Duisburg, doch neben der Wetterprognose ließ die Aussicht auf einfache Übernachtungsmöglichkeiten unsere Freunde abspringen. Obwohl - in Bochum hätten wir eine ganze Wohnung haben können. Zwar leer geräumt, aber immerhin.. Der Bewohner, wie wir Mitglied des "Warmshowers" Netzwerks, steckte gerade im Aufbruch zu einer geplanten zweijährigen Radreise. In der Nähe Henrichenburgs, dort, wo das Schiffshebewerk am Dortmund-Ems-Kanal liegt, sollte es Zeltplätze geben, doch um Oberhausen/Duisburg herum, also Ende der zweiten von vier Etappen, war auf die Schnelle nichts zu finden, was zugesagt hätte. Entsprechend hatte ich umdisponiert. Daten für das GPS-Gerät für die Sielroute aus dem Netz gezogen, langes Gesicht gemacht als ich feststellte, dass viele der Campingplätze entlang der Strecke über Ostern noch geschlossen hatten, und nun so was. Insofern hätte der Name des Ortes, an dem wir starten wollten, nicht passender sein können. Schöne Aussicht!
Und jetzt?
Ob es denn in der Nähe einen Campingplatz gäbe, auf dem wir unterkommen könnten?
Eylers Ranch, bekommen wir nach einigem Nachdenken als Tipp mit auf den Weg. Ein paar hundert Meter weiter. Gehört auch noch zu Oberhammelwarden. Einfach auf der Straße links abbiegen, dann irgendwo auf der rechten Seite. Also zurück in den Wagen, links abbiegen, und als ein paar hundert Meter weiter ein Schild mit dem genannten Namen am Wegesrand nach rechts weist, Blinker setzen, Lenkrad einschlagen und - staunen!
10 - in fetten, schwarzen Ziffern steht die Zahl auf weißem Hintergrund. Der rote Rand des runden Blechs weist unmissverständlich auf das hin, was ohnehin nur schwer zu ignorieren ist. Die Höchstgeschwindigkeit auf dem gepflasterten Weg, der ziemlich ausgefahren ist und auf dem selbst bei maximal zulässigem Tempo ein Aufsetzen der Karosserie nicht auszuschließen ist. Am ersten Stichweg bin ich unsicher. Rechts abbiegen? Oder weiter geradeaus? Probiere es rechts. In Sichtweite, vor ein paar Bäumen, werkelt ein Mann. Ein Kind, wahrscheinlich die Tochter, steht neben ihm. Als wir vor den beiden stehen senke ich erneut die Scheibe, diesmal auf der Beifahrerseite. Moin - ob wir hier richtig sind, auf Eylers Ranch?
Nein, da hätten wir weiter geradeaus fahren sollen.
Ob man denn eine Wiese habe, auf der wir unser Zelt aufschlagen könnten?
Mit einem Schmunzeln im Gesicht bekomme ich zu hören, dass wir es erstmal auf Eylers Ranch versuchen sollten.
Nichts desto trotz - Danke auch, und Rückwärtsgang.
Das Stück mit Standgas im Vorwärtsgang ist nicht mehr weit. Die Reifen sind gerade im knirschenden Kies der Auffahrt zum Stehen gekommen, die Türen zugeschlagen, da werden wir auch schon in Empfang genommen.
Die Kölner sind da!
Ute und ich sind irritiert. Ja, schon, aber wir kommen unangemeldet.
Die Bedienung aus dem Restaurant?
Der Nachbar?
Eine Webcam?
Immerhin sind die Kennzeichen unseres Wagens verräterisch.
Kinder noch im Auto?
Nee - Zuhause. Hätten sie gewollt, sie hätten sich uns in eigenem Wagen anschließen können. Die Sitzgelegenheiten des Golfs sind schließlich Rädern und Packtaschen geopfert. So langsam beginnt es zu dämmern.
Wir sind also gar nicht die ...?
Doch schon. Aber nicht DIE!
Okay. Nachdem die anfängliche und dann beidseitige Konfusion beseitigt ist, schildern wir unser Anliegen.
Eine Übernachtungsmöglichkeit.
Ja, kein Problem.
Neben der Dame des Hofes ist mittlerweile auch der Hausherr präsent und wird in Kenntnis gesetzt. Durch eine Tür im größeren Tor der Scheune werden wir in das Gebäude geführt. Anstelle Viehzeugs oder Strohs dient die Tenne zahlreichen Fahrzeugen als Abstellfläche. Vorbei geht es an einem alten VW Käfer, einem Tuk-Tuk, diversen Zweirädern und Anhängern, dann folgt die nächste Tür, hinter der sich Tische und Bänke befinden. Noch eine Tür weiter, dann stehen wir im Wohntrakt des Bauernhofs. Quietschende Bohlen einer Treppe hoch, und wir befinden uns eine Etage höher, wo die Gästezimmer eingerichtet sind. Dort können wir wählen. Das eine Zimmer oder das andere. Mir ist es gleich, Ute entscheidet für uns das Hochzeitszimmer. Oder ist es die Honeymoonsuite? Egal. Auch hier: knarzende Dielen, weiß übertünchte Backsteinwände, Dachschräge, eine Einrichtung, wie ich sie von meinen Großeltern in Erinnerung habe. Schwerer, massiver, hölzerner Kleiderschrank, ebensolche Betten sowie eine Kommode mit dreiteiligem Spiegel, zwei davon klappbar. Ein paar Spinn- oder Staubweben in den Ecken, ansonsten aber alles sauber, gerahmte Fotografien an den Wänden, zwei klobige Sessel, ein Tischchen, renoviertes Badezimmer - vielleicht etwas kühl, aber man war ja auch nicht auf weitere Gäste eingestellt. Für Ute ist die Sache klar, ich hadere noch. 60 Euro für die Nacht, Frühstück inklusive beziehungsweise mit sechs Euro pro Nase auf Wunsch auch abwählbar. Wir müssten uns nur rechtzeitig entscheiden. Wegen der Brötchen. 12 Euro - grüble hin, grüble her. Gut, gebongt. Mit Frühstück bitte. In einer Bäckerei mögen wir geringfügig günstiger weg kommen, viel wird es aber nicht sein. Müssen wir nicht zweimal aufbrechen - und außerdem: wo gibt es hier die nächste Bäckerei? In der knappen halben Stunde zwischen Autobahn und Weser kamen wir zwar durch einige Dörfer, doch sahen die ziemlich ausgestorben aus. Irgendwo gab es eine Häuserfront die so aussah, als beherbergte sie einst drei Ladenlokale, die Betonung liegt aber auf der Vergangenheitsform. Durch die Glasscheiben sah man auf leere Räumlichkeiten. Schauen wir hingegen durch das Fenster unseres gerade für eine Nacht gebuchten Hochzeitszimmers, so blicken wir auf eine Wiese, auf der ein paar Moorschnucken grasen. Dahinter ein Bach, der hier Siel heißt sowie hier und da größere Bäume.
Nachdem das Nötigste aus dem Auto seinen Weg in die Kemenate gefunden hat, auch wir die erwarteten Kölner kennen lernen dürfen, unsere Gefährte aus dem Kofferraum in einen fahrbereiten Zustand versetzt sind, eine Proberunde zum Weserdeich überstanden und schließlich die fahle Helligkeit des Tages der Dunkelheit der Nacht gewichen ist, machen wir uns in der Küche breit. Mikrowelle und Herd benötigen wir nicht, von dem Luxus eines "ordentlichen" Bestecks und Geschirrs machen wir jedoch beim Vertilgen unseres Reiseproviants gern Gebrauch. Das restliche Abendprogramm weicht hingegen kaum von dem unter betuchterer Bleibe ab - lesen anstatt in die Röhre gucken.
Halbwegs zeitig wird am nächsten Morgen gefrühstückt. Die zwölf Euro erweisen sich als gut investiert. Der Tisch ist reichlich gedeckt und in Anbetracht eines Tages an frischer Luft bei körperlicher Ertüchtigung sorgen wir dafür, dass unsere Gastgeberin nicht allzu viel unangetastet abräumen muss. Welches Gewicht letzten Endes von den Tellern auf die Beine verlagert ist? Es bleibt nicht nur uns ein Geheimnis. Anders verhält es sich mit dem Zeitpunkt, den das Navi bezüglich erster nennenswerter Bewegungen registriert. Um 10:30 Uhr lassen wir Hof und Auto hinter uns, holpern mit kaum mehr als den maximal zulässigen 10 km/h über die uns mittlerweile bekannte Piste Richtung Weser. Im Uhrzeigersinn der Route, also zunächst flussaufwärts, bleiben wir hinter deren Deich und gelangen nach kurzer Fahrt nach Elsfleth. Neben Huntesperrwerk gibt es hier das Segelschulschiff "Großherzogin Elisabeth" zu besichtigen. Auch wenn der dreimastige Gaffelschoner, der für Feierlichkeiten oder Fahrten nach Helgoland gemietet werden kann, sofern er nicht für Ausbildungsfahrten genutzt wird, gerade fest vertäut im Hafen liegt - wir steigen nicht um. Ute bleibt in klassischer aufrechter Sitzweise, ich zwei Hand breit über dem Boden in eher liegender Körperhaltung unserem zwei- beziehungsweise dreirädrigen Vehikel treu. Nach kurzem Halt strampeln wir noch ein Stück der Weser entgegen und lassen uns weder von Gegenwind noch engen Passagen am Rande einer Eisenbahnbrücke aufhalten.
Erst 10 Kilometer weiter, in Höhe des Flusskilometers 25, wo nicht nur der Campingplatz Juliusplate noch darauf wartet, seine Pforten zu öffnen, sondern von wo aus auch per Fähre zum anderen Ufer übergewechselt werden kann, wenden wir uns von Strom wie Südzipfel der Radroute ab, verzichten darauf, einen Blick auf die Mündung der Ochtum zu werfen, und genießen den Wind im Rücken. Dass er uns hin und wieder auch von der Seite erwischt? Lässt sich auf den Abschnitten in Ost/West Richtung nicht vermeiden. Überwiegend treibt uns der Luftzug aber auf seinem Weg in den Norden vor sich her, was sich auf das Vorankommen nicht ungünstig auswirkt. Die Wege, über die wir dabei geschoben werden, sind größtenteils asphaltiert, kaum befahren und frei von Höhenunterschieden - plattes Land halt. Wo doch mal mehr Autos an uns vorbei rauschen, gibt es einen Radweg, wo wir nicht über Teer rollen, ist es gepflastert, oder betoniert, oder anstrengender, kommt aber am ersten Tag so gut wie nicht vor. Landschaftlich überwiegt das Grün, wobei sich das Auge schnell an die Umgebung gewöhnt - und dann auch nicht viel Abwechslung geboten bekommt. Mal durchziehen Siele die Felder, mal stehen Viecher auf Weiden, andere Male nicht. Zweimal fällt unser Blick auf Störche, häufiger auf reetgedeckte Dächer sowie zahlreiche Dörfer, in denen man die Ortsausgangsschilder fast schon vom Ortseingangsschild aus sehen kann.
Nach einer morgendlichen Kurzmitteilung, dass sich unsere zwischenzeitlichen Gastgeber aus Unna in Anbetracht der prognostizierten Wetterverhältnisse für einen Tagesausflug auf den Weg gemacht haben, es uns gleich zu tun, zücken wir in Jaderberg um 15:00 Uhr ein weiteres Mal das Mobilfunkequipment, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Vielleicht hier im Ort, wo man sich im Freizeitpark nebenan auf den Rutschen einen heißen Hintern holt, den Tieren das Fell dünn streichelt, in Rundbooten über das Wasser eiert oder sich sonst wie vergnügt? Nein, Dangast soll es sein. Dort, wo das Auto steht, der Kaffee lockt und mit Jutta und Martin ein anderes befreundetes Pärchen wiederholt Urlaube verbrachte. Wäre in Jaderberg nicht der Supermarkt auf dem Wege, das zeitversetzte 11:00 Uhr Loch im Magen zu stopfen sowie in Varel der Fotostopp - die knapp 20 Kilometer wären in einer Stunde bewältigt. So aber liegt nun mal in Jaderberg der erste Supermarkt auf der Strecke, das Frühstück ist verdaut, ich komme in Varel mit der Kamera um den Hals nicht an Rathaus, Kirche und Windmühle vorbei, ohne stehen zu bleiben, und es wird 16:30 Uhr, bevor die Strandpromenade Dangasts vor uns liegt. Dass wir dabei von der Sielroute abkommen, den Reiterhof, auf dem wir übernachten wollen, links liegen lassen, und einen Ort kennen lernen, in dem es deutlich touristischer zugeht als an den Flecken, die wir zuvor passierten?
Beabsichtigt!
Man muss doch mal schauen, wo es die Freunde immer wieder hin zieht.
Auch wenn an diesem Ostersamstag hier mehr Menschen herum rennen als andernorts - gemessen an Schön-Wetter-Tagen in der Hochsaison wird nichts los sein. Ein paar Souvenirläden bringen bereits an den Mann, was an den Mann zu bringen ist, andere Buden versorgen den geneigten Besucher mit Speis und Trank, und der als Treffpunkt ausgewählte Holzhaufen für das Osterfeuer zieht nicht nur unsere Blicke auf sich. Es dauert ein paar Minuten, dann trudeln auch die ein, von denen wir uns erst tags zuvor verabschiedeten. Rüdiger und Birgit sowie Hündin Sara im Korb auf dem Gepäckträger. Ist ja nicht die größte, die Vierbeinerin, und muglig warm scheint es in der roten Decke außerdem zu sein. Nach kurzem Hallo die Frage - was tun?
Essen!
Essen geht immer. Man kann es uns nahezu ansehen. Nicht nur nahezu.
Mit der Beantwortung der ersten Frage drängt sich jedoch unmittelbar eine zweite auf - wo?
Das Handy wird erneut bemüht, diesmal mit der Nummer von Jutta im Display. Wo man in Dangast gut essen gehen könne. Unter anderen fällt der Name "Altes Zollhaus". Gut, liegt auf dem Weg. Weniger gut, als wir davor stehen: man öffnet erst in etwa einer Stunde. Nicht, dass wir bis dahin verhungern, aber es gilt auch noch, ein Zelt aufzuschlagen. Und die Uhr steht noch auf Winterzeit. Da wird es früh dunkel. Und Zelt im Dunkeln aufbauen ist blöd.
Ein paar Schritte zurück, auf der anderen Straßenseite, lag eine Imbissbude. Dort saßen Leute. Auf der Terrasse sowie drinnen. Wir machen kehrt und setzen uns direkt rein. Auf die Tische und Stühle vor der Tür fällt so langsam der Schatten. Und das ist genau so wie Zelt im Dunkeln aufbauen. Blöd. Noch unangenehmer aber: kalt - zumindest frisch. Und das muss nicht sein. Waren ja den ganzen Tag draußen. Drinnen dann das, was man Fastfood nennt. Nichts Besonderes. Eine Portion Kartoffelstäbchen, Hackfleisch zwischen Esspappe, Nudelauflauf, dazu Perlendes zu trinken. Oder Heißes. Jedem, wie es ihm beliebt. Kein kulinarischer Hochgenuss, aber sättigend - und schnell. Zwischen Kauen und Schlucken werden die jüngsten Erlebnisse kundgetan, dann heißt es Zahlen und Abmarsch. Zurück Richtung Reiterhof, den wir zuvor links liegen ließen. Als wir dort ankommen liegt er noch immer dort. Links. Also einmal auf die andere Straßenseite - und schauen. Wo ist hier etwas, das nach Rezeption aussieht. Nichts zu sehen. Nur Wohnwagen. Gut, dann dahin, wo all die Leute herum rennen. Auf den Hof. Ein unübersichtliches Gewusel. Schwenkgrill, Getränkeverkauf, Kasse - alles von Menschen umringt. Ich frage mich durch und erhalte Geleit. Ein Junge in Gummistiefeln weiß, wo Petra zu finden ist. Petra weiß, wo es lang geht, mit den Campern. Und mit den Pferden. Ist ja schließlich ein Reiterhof. Petra ist bei den Pferden. Im Stall. Füttern. Schnell stehe ich Petra gegenüber, muss mich jedoch gedulden. Jetzt sind die Pferde dran. Also warten. Während wir warten, vor dem Stall, wird es dunkler. Rüdiger und Birgit schauen noch kurz vorbei, dann verabschieden sie sich und fahren zurück nach Hause, nach Unna. Wir warten weiter. Fragen zwischendurch noch mal nach Petra, und kurz bevor es ganz dunkel ist, kommt Petra. Ganz in Eile. Gleich wird das Osterfeuer angezündet. Betriebsamkeit macht sich auf dem Hof breit. Jeder will den Flammen aus der Nähe zusehen. Petra will wissen, wieviel Platz wir brauchen, für unser Zelt. Ganz wenig. Ist ja nur ein kleines. Damit haben wir zwei Plätze zur Auswahl. Entweder hier, zwischen zwei Wohnwagen, oder dort, vor der Weide. Muss nur der Wagen weg. Unsere Entscheidung fällt auf den Platz, wo der Wagen weg muss. Kein Riesending, und Augenblicke später kann ich mich an den Aufbau begeben. Die Heringe zum Abspannen unserer Behausung halten in dem sandigen Boden nur mäßig, aber es geht. Als dann das Gatter geöffnet wird, durch das die Gäste des Reiterhofes gen Osterfeuer strömen, stehen wir plötzlich fast im Mittelpunkt - wäre da nicht das Osterfeuer. Ob es denn nicht zu kalt sei, zum Zelten. Oder zu windig. Und für einen Nachwuchsstiefelknecht ist es ohnehin unverständlich, was wir da betreiben. Recht verständnislos hakt er nach, ob wir denn kein Wohnwagen hätten ...
Ja, Sachen gibt's - aber nee, ha'm wir nich!
Trotz aller Widrigkeiten überstehen wir auch diese Nacht. Nach warmer Dusche noch ein wenig lesen, es folgt die kürzeste Nacht des Jahres, die Uhrumstellung macht's möglich, und schon wird die Stoffhütte wieder abgebaut. Rechtzeitig, bevor die ersten Regentropfen dem ergiebigeren Schauer weichen, ist die Ausrüstung verstaut. Nahezu trocken. Nicht mehr so trocken kommen wir davon. Während sich die Wolken über unseren Köpfen entleeren, fahren wir noch einmal nach Dangast. Lernen den Ort von einer anderen Seite kennen. Verstehen, warum sich keiner für das interessiert, was an den Flohmarktständen angeboten wird, und finden eine Bäckerei, die nicht nur geöffnet hat, sondern in der wir auch noch ohne weiter nass zu werden frühstücken können. Bei belegtem Brötchen und einem Heißgetränk trauern wir dem hinterher, was wir keine 24 Stunden zuvor angeboten bekamen, zögern den erneuten Aufbruch noch ein wenig hinaus und verquatschen uns vor der Tür mit dem Ladenbetreiber, dessen Zugang zum Geschäft wir mit unseren Rädern blockieren. Sei aber kein Drama. Verirrt sich ja ohnehin keiner zu ihm, bei dem Wetter. Die mit Vornamen bedruckten Tassen an einem Drehständer zeigen zwar an, dass man Geld loswerden könne, finden aber so gut wie keine Beachtung. Entsprechend bekommen wir Empfehlungen für eine Runde mit auf den Weg. Erfahren, dass für 80 bis 90.000 € ganze Gehöfte in der Region zu kaufen sind, liegen sie nicht direkt in erster Reihe hinter dem Deich, und dass der Regen erst ab Mittag nachlassen soll. Auch wenn der nächste Campingplatz keine 40 Kilometer entfernt liegt, den halben Tag warten wollen wir nicht, und so wenden wir uns wieder dem nassen Element zu. Dem von oben. Das zur Seite bleibt uns bei einem Weg hinter dem Deich am südwestlichen Ufer des Jadebusens vorenthalten. Zumindest bis Varelerhafen. Dort werfen wir einen ersten Blick über den Erdwall, bekommen aber außer zwei dort liegenden Kuttern nicht viel zu sehen. In der Ferne nahezu alles grau. Lediglich in Nuancen unterscheiden sich Meer, Erde und Himmel. Auch zurück auf der ausgeschilderten Sielroute ändert sich nicht viel. Dem südwestlichen Teil des Jadebusens folgt der südliche, der hinter dem Deich verlaufende Radweg ist gesperrt, die Umleitungsstrecke verläuft über die Radspur entlang einer mäßig befahrenen Landstraße, dann schließt sich das südöstliche Bereich des Jadebusens mit der Halbinsel Butjadingen an und es hört auf zu regnen. Ob zwischen Niederschlag und Topografie ein kausaler Zusammenhang besteht? Keine Ahnung - wir kehren nicht um, es zu ergründen.
Gegen 14:30 Uhr ist Eckwarderhörne, die Südwestspitze Butjadingens, erreicht. Ein Leuchtturm dient Fähren aus Wilhelmshaven und Dangast als Orientierungshilfe. Als wir davor stehen stellen wir fest, dass er zudem Besucher Schlange stehen lässt. Zumindest diejenigen, die ihn über eine enge Wendeltreppe erklimmen wollen. Wir zählen uns nicht dazu. Auf dem nahe gelegenen Campingplatz könnten wir die Nacht verbringen, doch mit den 40 gefahrenen Kilometern wollen wir uns nicht zufrieden geben. Da ist noch mehr möglich. 75 Kilometer sind es noch bis zum Auto, die sollten sich noch minimieren lassen. Zunächst einmal aber lockt ein Ausflugslokal. Eine Mittagspause wäre nicht schlecht - und die Situation ist günstig: die Speisekarte klingt ansprechend, ein Tisch hinter dem Fenster ist frei, und von diesem aus hätten wie nicht nur unsere Räder samt Gepäck im Blick, nein, wir bekämen auch windgeschützt etwas von dem ab, was sich zaghaft seinen Weg durch die Löcher der Wolkendecke bahnt. Sonnenstrahlen!
Ute und ich brauchen gar nicht lange zu überlegen, da finden wir uns dort wieder, wo diese hinfallen. Windgeschützt. Und wo Essen und Getränke serviert werden. Einzig kleiner Haken an der Angelegenheit: schnell gewöhnen wir uns an das wohlige Gefühl und es vergehen anderthalb Stunden, bevor wir unseren Osterausflug fortsetzen. Abermals kürzen wir die Strecke entgegen der "offiziellen" Sielroute ab. Anstatt einer Umrundung der Halbinsel entlang des Wattenmeers wählen wir den direkteren Weg zurück an die Weser. Über den Mitteldeich. Klar zu erkennen ist dieser zwar nicht, die Buchstaben füllen jedoch die Straßenschilder, die die Piste säumen. Wind hält er jedenfalls keinen ab. Den bekommen wir mit zunehmender Strecke immer weiter von schräg vorne auf die Brust. Entsprechend zieht sich die Zeit, voran zu kommen. Gegen 17:30 Uhr rücken schließlich Krananlagen näher. Ein Kran hinter dem anderen. Und es sind viele. Bevor uns jedoch sichtbar die Weser von diesen trennt, gilt es, ein anderes Hindernis zu überwinden. Einen Feldweg. War ich davon ausgegangen, ausschließlich befestigte Wege in der Route zu haben, so herrscht hier eindeutig ein Missverständnis. Ein späterer Blick Zuhause auf die Karte bestätigt das, was wir vor uns haben. Einen Pfad. MTB tauglich. Dumm nur, dass ich nicht mit einem MTB, einem Mountainbike unterwegs bin, sondern mit einem Liegedreirad, dessen Antriebsrad, nämlich das hintere, schnell auf dem matschigen Boden durchdreht und einen unansehnlichen Klumpen unter dem Schutzblech formt. Also - raus aus der bequemen Sitzposition und schieben, so wie Ute es auch macht. Nur, dass ein "normales" Rad zielgerichteter am Lenker in die Richtung bewegt ist als ein Vehikel, das man am Sitz anfassend vor sich her bewegt und dessen lenkbare Achse bereitwillig jeder Furche im Boden folgt. Die Wäscheleine auspacken und als Abschleppseil missbrauchen? Kommt nicht in Frage. Fahrzeug wenden und am Gepäckträger anfassen? Scheidet ebenso aus. Die 20 Kilo Gepäck stören. Zudem ist die Straße, auf der gelegentlich Autos hin und her flitzen, schon zu sehen. So "kosten" die 700 Meter halt 15 Minuten, dann dauert es auch nicht mehr lange und wir finden einen Weg den Deich hoch, wo eine malerische Abendstimmung für die Strapazen entschädigt. Tief hängende Wolken im Osten, Sonnenstrahlen aus dem Westen, dazwischen die Flussmündung, dessen gegenüberliegendes Ufer Licht geflutet wird.
Geblendet von den Eindrücken übersehe ich prompt die nicht gerade kleine Informationstafel, auf der die Gebäude Bremerhavens erläutert sind, erkundige mich bei anderen Passanten, ob ich hinsichtlich des Namens der Stadt mit meiner Vermutung richtig liege. Augenblicke später komme ich mir ziemlich dämlich vor. Doch egal. Kann man mit leben. Sogar so gut, dass man dem Weg vor dem Deich folgt, der zwar einen Kilometer länger ist, dafür aber den Blick über das Wasser frei gibt.
Mit Nordenham erreichen wir kurz vor 20:00 Uhr den nächsten geöffneten Zeltplatz. Kurzer Anruf der Telefonnummer, die an der Rezeption prangt für den Fall, dass diese nicht besetzt ist, und nur wenig später händigt man uns einen Schlüssel aus, der uns den Zugang zu einer warmen Dusche verschafft. Dass es uns außerdem noch gelingt, die mobile Bleibe noch vor Einbruch der Dunkelheit aufzuschlagen? Die Umstellung der Uhr auf Sommerzeit macht's möglich!
Stürmischer hingegen gestaltet sich nicht nur der Zeltabbau am nächsten Morgen, sondern auch die Schlussetappe. Das Wetter hält sich erneut an die Vorhersage, es windet bisweilen heftig und das aus der Richtung, in die es uns zieht. Nach einem Frühstück an einer Tankstelle geht es hinter dem Deich weiter. Fegen die Böen Ute fast vom Rad, so muss ich zwar kräftiger treten, um voran zu kommen, sehe mich aber ansonsten weniger beeinträchtigt. Nach ein paar Kilometern hat meine Frau genug. An einer Bahnhaltestelle trennen sich einstweilen unsere Wege. Sie nimmt den Zug bis Elsfleth, ich trotze den Elementen. Will wissen, wie das auf Island sein könnte, in ein paar Wochen. Landschaftlich verpasst Ute nichts. Radweg und Bahntrasse liegen nicht weit auseinander, durchqueren aber häufig genug Industrie- und Gewerbegebiete. Gibt es auch in Köln, dafür muss man nicht an die Nordsee. Ob Brake attraktiver ist als Godorf? Wird man drüber streiten können, macht für mich aber keinen großen Unterschied. Ebenso verhält es sich mit dem zeitlichen Aufwand, ob man die letzten Kilometer auf der Schiene oder Pedale tretend auf der Sielroute zurücklegt. Zumindest dann nicht, wenn der Zug nicht gerade auf einen wartet. Entsprechend können wir uns gegenseitig im Vorbeifahren zuwinken und es kostet Ute keine Stunde Warterei, bis ich nach ihr an unserem Ausgangspunkt eintreffe. Dass sie sich in der Zwischenzeit bei einer Kanne Tee aufwärmen konnte? Kaum der Rede wert. Ich musste auch nicht frieren. Ganz im Gegenteil - bin froh, als ich mich der durchschwitzten Klamotten entledigen kann, bevor das Osterwochenende endet, wie es begann. Im Stau, auf der Autobahn ...