Paderborner Land Route
… auf der Karte
… in Bildern
… in Worten
Über ein Jahr lag sie in der Schublade, mit dem langen Wochenende über den Maifeiertag nehme ich sie mir vor, die Paderborner Land Route. Der gut 250 Kilometer lange Rundkurs ist vom ADFC mit drei von fünf möglichen Sternen ausgezeichnet, was bedeutet, dass die Beschilderung einigermaßen verlässlich ist, einige Radler freundliche Beherbergungsbetriebe die Strecke säumen sowie Beschaffenheit und Verlauf der Wege dem entsprechen, was „man“ sich als Reiseradler so vorstellt – befestigte, gut befahrbare Pisten, auf denen kein übermäßiger KFZ-Verkehr herrscht. Um es vorweg zu nehmen, die Klassifizierung geht in Ordnung. Dass ich aber dennoch „mein“ Abenteuer erlebe hängt damit zusammen, dass ich nicht auf eines der rundum-sorglos Pakete zurück greife, die professionelle Anbieter offerieren. Von der An-/Abreise, dem Gepäcktransport, der Übernachtung bis hin zur Verpflegung kümmere ich mich um meine Belange selbst.Da Paderborn selbst mit dem Auto knapp 200 Kilometer entfernt liegt, scheidet für mich eine Anreise aus eigener Kraft aus. Aufgrund günstiger Bahnverbindung gebe ich dieser Alternative gegenüber dem Auto den Vorzug. Unter Berücksichtigung der Straßenverkehrsverhältnisse vielleicht gar nicht so unklug, der Entschluss, aber nicht ohne Tücken, wie ich am Kölner Hauptbahnhof feststellen muss. Die erste Etappe mit der S-Bahn aus dem Vorort in die Innenstadt gestaltet sich unproblematisch. Die 20 Minuten Puffer für das Umsteigen reichen alle Male, da auf dem Gleis für die Weiterfahrt eine 20-minütige Verspätung angekündigt wird, die sich kurze Zeit später um fünf Minuten ausdehnt. Noch mache ich mir keine Gedanken, ich habe ja Zeit. Diese wird mir von einer Mitreisenden verkürzt, die mich in Anbetracht der Gepäcktaschen auf das anspricht, was ich da vorhabe. Sie selber sei auch viel geradelt, Israel und Skandinavien bekomme ich zu hören, aber heute, alleine, als Frau, längere Touren, das sei ihr zu viel des Guten. Wir sind gerade mitten im Gespräch, als uns eine Lautsprecherdurchsage unterbricht. Es ist drei Minuten vor der avisierten Ankunftszeit des Zuges. Anstatt auf Gleis 4 fährt der Zug heute auf Gleis 2 ein, tönt es über den Bahnsteig. Für die nicht so häufig Reisenden mit der Bahn: dies liegt nicht auf dem gleichen Bahnsteig, gegenüber, sondern ist durch zwei Gleisstränge voneinander getrennt. Um dorthin zu gelangen, haben die sich Erbauer in Köln Stufen, Rolltreppen sowie Fahrstühle einfallen lassen. Stufen und Rolltreppen scheiden für mich mit dem beladenen Rad aus, also begebe ich mich zum Fahrstuhl. Noch während ich auf diesen zusteuere, fährt der Zug ein. Die Schlange derer, die da mit Koffern vor mir stehen, ist lang. Zwei mal befördert der Fahrstuhl Reisende eine Etage tiefer, dann ist Platz für mich. Als ich mit dem nächsten Fahrstuhl auf Gleis 2 ankomme, passiert das, was man in der Situation vor seinem geistigen Auge schon gesehen hatte – man blickt den Schlusslichtern des Zuges hinterher. Ich bin begeistert!
Wutentbrannt wende ich mich an das Bahnpersonal auf dem Bahnsteig, schildere leicht aufgebracht meine Sicht der Dinge, wohl wissend, dass man den Zug nicht zurück pfeifen wird. Nee, dumm gelaufen, tut uns ja Leid, aber kein Problem, in wenigen Minuten läuft der nächste Zug ein, mit dem ich in Hamm in den gerade davon gefahrenen einsteigen könne. Und falls der dann doch schon weg sei, so stünde dort eine weitere Verbindung zur Verfügung, mit der ich nur wenig später in Paderborn einträfe. Na gut, die Beschwichtigung hilft – wo denn das Fahrradabteil sei?
Am Ende des Zuges, gleich zwischen den nächsten beiden Treppenaufgängen. Okay, ich bringe mich in Position. Das erste was ich sehe, als der Zug eintrifft, ist das Symbol eines Rades, am ersten Wagen. Der letzte Wagen, der vor mir zum Stehen kommt, trägt kein derartiges Symbol an der Tür. Echt super, was man als Kunde dieses Unternehmens mitmacht, doch es kommt noch besser. Ich spute mich, um mit meinem Drahtesel zu dem Waggon zu gelangen, der für den Transport derartiger Vehikel vorgesehen ist, und stelle dabei fest, dass ich damit mal wieder so ziemlich der Letzte in der Schlange derer bin, die mit wollen. War ich davon ausgegangen, dass bei zwei aufeinander fahrenden Zügen zu nahezu identischem Fahrtziel die Zahl der Fahrgäste überschaubar sein sollte, so liege ich deutlich daneben. Der Zug platzt aus allen Nähten, und der Stellplatz für Räder ist blockiert durch schweres Gepäck – Überseekoffer, oder so was in der Richtung. Doch damit nicht genug. Um in den Zug zu gelangen, muss ich zwei Stufen hoch steigen. Nicht lustig, denn sie sind hoch. Die zwei Stufen wieder herunter in dem doppelstöckigen Anhänger hingegen bleiben mir erspart. Überall im Durchgang stehen Menschen, von den Koffern unten ganz zu schweigen. Mit Hintern einziehen und vorsichtigem Rangieren finde ich Platz, dass sich zumindest die Tür hinter mir schließen und der Zug los fahren kann. In Deutz und Solingen, an den nächsten Haltestellen, jedes mal das gleiche. Bremsen lösen, das Rad ein Stückchen nach vorne schieben, oder zurück, so dass Mitreisende, ungehindert wäre übertrieben, zumindest aber überhaupt aus- oder zusteigen können.
Kurz vor Wuppertal drängelt sich dann ein Herr in Uniform vorbei – der Schaffner. Anstatt sich von mir, wie von den umher stehenden, die Fahrausweise zeigen zu lassen, macht er mich in barschem Ton darauf aufmerksam, dass ich dort, wo ich stehe, nicht bleiben kann. Der Zug habe ein Abteil extra für Fahrräder, und ob ich denn nicht lesen könne, dort, vor der Treppe stünde, dass der Durchgang von Gepäck und dergleichen frei zu halten sei. In ruhigen Worten versuche diesmal ich meinen Gegenüber zu besänftigen, schildere ihm das bislang Erlebte, weise ihn darauf hin, dass rechts neben der Tür, von außen, ein Fahrradsymbol angebracht sei, dass es eine Zumutung ist, was man Reisenden wie mir mit den Stufen da antue, dass die Stellplätze für Räder mit Koffern zugestellt seien, und dass ich den Hinweis, den Durchgang freizuhalten, von außen schon gar nicht hätte lesen können, und selbst jetzt, im Zug, das Schild durch mindestens drei Rücken verdeckt sei.
Ob ich den wisse, dass ich eigentlich den Zug an der nächsten Haltestelle verlassen müsse. Der Ton des Schaffners wird bereits umgänglicher. Eigentlich – hört sich gut an. Und an sich wäre es ratsamer, nicht an Tagen vor Feiertagen oder langen Wochenenden zu reisen. Toller Tipp!
Auch den Rest der Fahrt werden meine Tickets nicht kontrolliert. Statt dessen ernte ich von dem Uniformierten aussagekräftige Blicke und von Mitreisenden Kommentare, dass es ja wohl eine Unverschämtheit sei, mit dem Fahrrad den Weg zu versperren. Auf der Rückfahrt schnappe ich von einem Rollstuhlfahrer in ähnlicher Situation den Spruch auf, der alles so wunderbar auf den Punkt bringt: das Leben in vollen Zügen genießen!
Der Umstieg in Hamm gestaltet sich halbwegs unproblematisch. Die Stufen herunter zu kommen ist deutlich leichter als der Weg hinauf, den ursprünglichen Zug auf einem anderen Gleis zu erwischen erspare ich mir, frage mich statt dessen in dem eines privaten Konkurrenzunternehmens, was die zu dem Fahrausweis sagen würden, den ich neben der ausgedruckten Fahrplanauskunft des Bahnbediensteten vom Gleis des Kölner Hauptbahnhofs in der Tasche habe, für den sich aber glücklicherweise niemand interessiert.
Das Wetter, das mich in Paderborn erwartet, als ich eintreffe, passt zur verkorksten Anreise. Es gießt wie aus Eimern. Ich mache es wie die andere Gruppe Radler auch, die mit mir aussteigt. Ich krame meine Regenjacke hervor, und ab geht`s. Vor einer roten Ampel wechsele ich mit dem Trüppchen ein paar Worte. Die drei Pärchen haben in Paderborn ein Hotel gebucht und wollen über das Wochenende zurück nach Recklinghausen – über die Römer-Lippe-Route. Kommt mir auch nicht so ganz unbekannt vor. Ich erinnere mich an die Beschilderung, die sich entlang des Flusses bis Haltern mit Utes und meinem Weg zum Nordkap deckte.
In Paderborn radle ich im Wolkenbruch durch die wahrscheinlich aus diesem Grunde recht menschenleere Fußgängerzone. Auf dem Weg zum Rathaus stehen zahlreiche Kirmesbuden und Getränkestände, vor dem historischen Bau eine Bühne, von der aus wohl in den Mai gerockt werden soll. Nach kurzem Abstecher zum ebenfalls betagteren Dom verlasse ich die Stadt Richtung Nordosten, sieht meine Wegführung auf dem Navi vor, den Rundkurs im Uhrzeigersinn zu nehmen. Kaum habe ich das Stadtgebiet hinter mir, lässt der Regen nach und ich gelange trockenen Hauptes und ohne nennenswerte Steigungen über Felder an den Ort, an dem die Lippe entspringt. Im Bad Lippspringer Kurgebiet stoße ich zwar reihenweise auf Schilder zur nächsten Klinik, Pension oder Hotel, Hinweise auf die Quelle aber, die dem Städtchen den Namen verleiht, entdecke ich nirgends. Da die Planer des Radweges und des Kurortes derlei Dinge offensichtlich nicht für sehenswert genug hielten, frage ich mich durch. Bei der Gelegenheit erfahre ich von dem Herrn, den ich anspreche, nicht nur, wo der gesuchte Wasserlauf entspringt, sondern auch, dass nicht weit davon entfernt gelegen, im Kurpark, der Jordan aus der Erde strömt. Hört sich doch nicht uninteressant an, und ging ich doch bereits, ohne Schaden zu nehmen, über die Wupper, so kann ich an Ort und Stelle probieren, wie es ist, mal über den Jordan zu gehen. Waghalsig wie ich bin, überschreite ich den Bach, der nach nur wenigen Kilometern in die Lippe fließt, direkt ein zweites Mal, muss ich doch irgendwie wieder zurück auf die Seite gelangen, auf der das Fahrrad steht. Einen guten Steinwurf weit entfernt von der Jordanquelle dann die der Lippe – direkt angrenzend an den Kurpark vor den dortigen Überresten der einstigen Burg. Eine Hinweistafel belehrt darüber, dass ich mich vor einer der stärksten Quellen Deutschlands befinde – immerhin durchschnittlich 740 Liter die Minute, die nach 237 Kilometern bei Wesel in den Rhein fließen. Wieder nur ein paar Meter entfernt zwei weitere Quellen, bei denen mich insbesondere das neben der zweiten angebrachte Schild amüsiert. Weist eine Bronzetafel die erste Quelle als die Arminius Thermalquelle aus, die 20° warmes, stark mineralhaltiges Wasser sprudeln lässt, untersagt der Bürgermeister an der Liboriusquelle davor, zwischen 22:00 und 06:00 Uhr dort Wasser zu entnehmen und droht bei Zuwiderhandlung mit einer Ahndung als Ordnungswidrigkeit – wegen Nicht-Einhaltung der Nachtruhe. Schon schräg, was den Leuten so einfällt. Aber als harmloser Tourist entwickelt man natürlich nicht das geringste Gefühl dafür, wie lautstark der Einheimische seine Gefäße zu füllen pflegt – also die, in denen er das wertvolle Nass davon trägt.
Obwohl noch lange vor der Nachtruhe verzichte ich darauf, Wasser in größeren Mengen zu entnehmen, vertraue ich doch darauf, dass die Durbeke, anders als auf der Aufnahme in Google Earth, Wasser führt. Im Vorfeld hatte ich mir den im Eggegebirge entspringenden Bach ausgesucht, um an diesem zu übernachten. Das Tal schien ruhig gelegen, und die Aufnahme, laut der der Bach ausgetrocknet war, konnte kaum aus dem Frühjahr stammen. Wie jedoch schon hinsichtlich der Anzahl der Fahrgäste im Zug werde ich vor Ort eines besseren belehrt. Der Bachlauf führt trotz voran gegangenem Regenschauer nicht einen Tropfen Wasser. Gibt es also keine Dusche. Und keinen ausgiebigen Abwasch, nachdem das Abendessen vertilgt ist; was hingegen die Ruhe anbelangt, so lag ich mit meiner Einschätzung richtig.
Der nächste Tag, ein Freitag, und mit dem ersten Mai ein Feiertag, gestaltet sich hügeliger. Die Route führt mich an den Ausläufern des Teutoburger Waldes sowie des Sauerlandes vorbei und bewegt sich zwischen 200 und gut 450 Metern über dem Meeresspiegel. Ist es dabei am Morgen noch grau und der Himmel Wolken verhangen, so klart es im Tagesverlauf immer mehr auf, bis zum Nachmittag hin sich die Sonne durchsetzt. Landschaftlich gestaltet sich die Fahrt ebenfalls abwechslungsreich; Feld, Wald und Wiesen – alles dabei, und auch einige Sehenswürdigkeiten liegen auf dem Wege. Auch wenn sich meine Faszination für Eisenbahnen, nicht zuletzt aufgrund solcher Erfahrungen wie tags zuvor, in Grenzen hält, bewundere ich bei Altenbeken einen fast einen halben Kilometer langen Viadukt sowie eine alte Dampflok aus dem Jahre 1941 (für Liebhaber: eine 044 389 - 5), die im Ort ihr einstweilen letztes Abstellgleis gefunden hat, wo sie von Freunden der Technik gehegt und gepflegt wird. Einige Kilometer weiter, im Kloster Dalheim, ist man über das Wochenende dabei, ein Gartenfest zu zelebrieren. Da auch diesbezüglich mein Interesse verhalten ist und ich nicht bereit bin, dafür auch noch knapp 10 Euro Eintritt zu zahlen, belasse ich es bei einem Blick über die Mauern, hinter denen sich zahlreiche Enthusiasten tummeln. In Atteln hingegen tauche ich ein in ein Dorffest. Vor alten Fachwerkhäusern werden Kaffee, Kuchen und alles geboten, was der typische Getränkestand her gibt. So genieße ich das erste Stück Erdbeerkuchen des Jahres, es enttäuscht mich nicht, und lasse mir ein Radler schmecken, das mich auf dem folgenden Hügel allerdings nicht sonderlich voran bringt, sondern eher lähmend in den Knochen steckt. Ein Stück weiter regeneriere ich mich bei einer kurzen Siesta auf einer Bank. Dass sich unmittelbar davor eine alte Richtstätte mit Galgen befindet trägt zwar nicht unbedingt zur Behaglichkeit bei, stört aber auch nicht, die Seele einen Augenblick baumeln zu lassen.
Hinter Bad Wünnenberg könnte ich meine Treter auf einem Erlebnis-Barfußpfad mit ganz neuen Gefühlsempfindungen konfrontieren, pedaliere aber weiter und gelange entlang des Aabachs zu dessen Talsperre. Nach einer Viertelrunde um den Stausee knickt der Weg ab Richtung Westen, und auf ruhigen Waldwegen rolle ich dem Kreis Brilon entgegen, wo ich mit der Alme auf einen Fluss stoße, der dafür sorgt, dass ich nicht ungeduscht in den Schlafsack kriechen muss. Auf einer Wiese entlang des dahin strömenden Wasserlaufs finde ich hinter einem Gebüsch ein verstecktes Plätzchen, so dass meine Anwesenheit von der Straße aus, die auf der anderen Seite des Tals verläuft, weitestgehend unbemerkt bleiben sollte. Dass ich dennoch Bekanntschaft mit einem Jäger mache, dafür sorgt wahrscheinlich die Stelle, an dem ich den Wassersack zum Duschen aufhänge – die Leiter eines Hochstandes. Ich stehe noch splitterfasernackt unter dem Beobachtungsposten und bin gerade damit beschäftigt, mich abzutrocknen, als der Herr in Tarnkleidung mit geschulterter Flinte mich darauf anspricht, ob das mein Zelt sei, das da ein paar Meter weiter stehe. Ja, so meine ebenso perplexe wie offensichtlich zutreffende Antwort. Ob ich dort stören würde? Blöde Gegenfrage, wie mir einfällt, nachdem sie ausgesprochen ist – warum mache ich es meinem Gegenüber so einfach mich darauf hinzuweisen, dass ich mich unerwünscht hier aufhalte. Ich habe jedoch Glück, der Wildhüter fasst die Bemerkung ebenso rhetorisch auf, wie es gemeint war. Nein, kein Problem, solange es mich nicht störe, dass er die halbe Nacht das Wild beobachten wolle. Wenn´s mehr nicht ist, mir soll´s egal sein, womit die Unterhaltung beendet ist und der Mann seiner Wege geht. Wieder zurück an meinem Nachtlager stelle ich mir die Frage ob es eine gute Idee ist, den Kocher anzuschmeißen und die Dose Chili-con-Carne aufzusetzen, aber vielleicht lockt der Geruch die Tiere des nahen Waldes ja auch an und der Waidmann ist über meinen Appetit gar nicht mal sooo unglücklich.
Weder verhungert noch verdurstet oder gar als Opfer eines Jagdunfalls erlebe ich den nächsten Tag. Die Alme rauscht weiterhin unbeeindruckt hinter meinem Zelt, nur ein leichter Nebel liegt noch über der Wiese, als ich einen ersten Blick „vor die Tür“ werfe, sprich, den Reißverschluss meiner betuchten Behausung eine Hand breit öffne. Die Straße störte die Nachtruhe nur unwesentlich, und die ebenfalls nicht weit entfernte Almetalbahn ohnehin nicht – die Strecke scheint seit einigen Jahren stillgelegt, deute ich die rostigen Gleise und den Bewuchs zwischen den Bahnschwellen richtig.
Der idyllische Einschnitt in die Landschaft mit seinem Wasserlauf begleitet mich noch eine Weile. Die auf dem Weg liegende Wewelsburg bestaune ich vom Radweg aus. Auch wenn das Dreiecksschloss 400 Jahre auf dem Bergsporn steht, weder die darin befindliche Jugendherberge noch ein Museum können mich locken, die recht steilen 40 Meter Höhenunterschied zu überwinden. Ebenso ergeht es mir in Niederntudorf, wo ich mich bei einem Herrn vor seinem Haus nach einer Metzgerei erkunde, die auch noch geöffnet hat. Für einen Samstag Mittag um 12:55 Uhr halte ich den Nachsatz nicht für unangebracht. Ja, da gibt es was, sogar ein 5 Sterne Betrieb, der in dem Jibi Supermarkt oben im Dorf untergebracht ist. Wird auch erst Abends geschlossen, der Laden, ich müsse „nur“ den Hügel hinauf. Ein verschmitztes Lächeln umspielt die Mundwinkel des Mannes, als er hinterher schiebt, dass es „mit dem Rad“ aber „nicht ganz ohne“ sei. Brav und artig bedanke ich mich, wie man es mir beigebracht hat, und folge weiter dem Weg auf dem Navi. Hätte mich natürlich gereizt zu erfahren, was es mit einer 5 Sterne Metzgerei auf sich hat, aber in Anbetracht des nicht weit entfernten Borchen gehe ich mal davon aus, in dieser Ortschaft auch ohne zusätzliche Höhenmeter zu einer Scheibe Leberkäse oder ähnlichem zu gelangen. Wie man sich mal wieder irren kann – ich komme weder an einem Supermarkt noch an einem Fleischerfachgeschäft oder einer Bäckerei vorbei, und das, obwohl ich schon den Abstecher zum dortigen Mallinckrodthof einlege. Dort soll bereits Annette von Droste-Hülshof es sich hat schmecken lassen, die Terrasse in dem ehemaligen herrschaftlichen Fachwerkgebäude, umgeben von Wassergraben und Parkanlage, macht auch einen einladenden Eindruck, aber was hilft´s, wenn das Café noch geschlossen ist. Keine Verpflegungsprobleme hat das Radlerpärchen aus Holland, das am Wegesrand den Kocher aufgebaut hat und die Beine in die Sonne streckt. Wir quatschen ein wenig und ich erfahre, dass die beiden von Paderborn nach Köln unterwegs sind, von wo aus es mit dem Zug zurück in die Heimat gehen soll. Gut gelaunt wie die beiden erzählen, scheinen sie bislang von negativen Erfahrungen bei Bahnreisen verschont geblieben zu sein – ich wünsche ihnen, dass es so bleibt.
An Borchens westlichem Ortsrand knickt der Weg für mich ab, ich verlasse einstweilen die Alme und kämpfe mich unter einer Autobahntalbrücke den Hügel hinauf. Nicht schlecht überrascht bin ich, als ich nach einigen Kilometern über Felder vor einem mir bereits bekannten Ortseingangsschild stehe – Niederntundorf. Gab es da nicht etwas? 5 Sterne Metzgerei, oder so was in der Richtung? Und richtig, wenig später stehe ich vor dem Supermarkt, der die entsprechende Fleischtheke beherbergt. Was es nun ist, dass den Betrieb im Betrieb auszeichnet, bleibt mir verborgen, meine Anstrengungen die Qualitätskriterien heraus zu finden halten sich aber auch in Grenzen. Ob also der Umgang der Geschäftsführung mit den Mitarbeitern, das Verhalten eben dieser gegenüber der Kundschaft, die pietätvolle Behandlung der Tiere auf ihrem Weg oder deren Aufzucht, Hege und Pflege zu Lebzeiten – ich finde jedenfalls keinen Grund zur Klage, ebenso wenig jedoch zu herausragender Anerkennung. Da ich aber ohnehin meine Probleme mit dem Superlativ habe, reicht mir das, was ich geboten bekomme – es muss nicht alles das schönste, größte, schnellste oder beste sein.
Mit dem Weg nach Salzkotten nehmen die Steigungen immer weiter ab und die Gegend wird übersichtlich; hier und da mal ein paar Bäume, ansonsten Felder, gelegentlich ein paar Obstplantagen. Im Ort drehe ich eine Runde um das neu errichtete Gradierwerk, inhaliere ein wenig salzhaltige Luft und fülle meine Trinkflasche an der Quelle „Neuer Sprudel“ - durchaus schmackhaft. Nach kurzem Stopp an einer Imbissbude folgt der Endspurt für den Tag. Den gut 50 bereits zurück gelegten Kilometern folgen 20 weitere, ohne dass größere Sehenswürdigkeiten „aufhalten“. Hier eine Cartbahn auf dem Parkplatz eines Firmengeländes, dort ein Storchennest, bei Ringboke einmal mehr die Lippe und entlang der Boker Seenplatte einige Kiesgruben. Auf meiner Suche nach einem Platz für die Nacht stelle ich fest, dass die Baggerseen zwar allesamt ruhig gelegen sind, aber sie teilen eine weitere Eigenschaft, die sie für mich ungeeignet macht – sie sind eingezäunt. Habe ich noch im Hinterkopf, dass irgendwo auf dem Weg auch ein Campingplatz liegt, so mache ich Halt, als ich an einem vorbei komme. Ein großes Banner heißt mich herzlich willkommen auf der Bullenranch. Trügt mich mein Erinnerungsvermögen nicht, hätte mich zuvor eine weitere Zeltwiese einladen sollen, doch egal – habe ich ein paar Kilometer weniger für den nächsten Tag.
Die nächste Herausforderung, die sich mir jedoch stellt, ist das Auffinden der Rezeption. In der Regel findet sich eine derartige häufig genug in der Zufahrt, vor oder hinter einer Schranke, auf der Bullenranch aber befinde ich mich umgehend auf einer Wiese, in deren Mitte ein Getränkewagen thront, der von einer Schar Gäste umringt ist. Zur Rechten steht zwar ein Gebäude, aber einen Hinweis auf ein Empfangsbüro gibt es nicht. Ich lehne das Rad an der Hauswand an und schlendere rüber zu denen, die da in entspannter Atmosphäre sich Bier und Limo schmecken lassen und in Gruppen in Unterhaltungen vertieft sind und mache den Herrn hinter dem Tresen als einen geeigneten Ansprechpartner für mein Anliegen aus, verspricht er zudem, mir mit einem Radler weiter helfen zu können. Mit meinem Begehr konfrontiert ruft er einen der Umstehenden herbei, dass da jemand ist, der gerne sein Zelt für eine Nacht aufstellen möchte. Ich wiederhole gegenüber dem herbei zitierten meinen Wunsch und bekomme zu hören, dass die Bullenranch ein privater Campingplatz sei, ich aber gegen einen kleinen Obolus in die Vereinskasse gerne bleiben und die Sanitäreinrichtungen nutzen kann. Ist doch schon mal was. Problematischer gestalte sich lediglich die Sache mit dem Stellplatz. Man habe Gäste eines anderen Vereins zu Besuch und die zur Verfügung stehenden Parzellen seien bereits mehr als belegt. Mit dem Hinweis, dass mir ja mit nicht viel mehr als zwei Quadratmetern geholfen sei, und dass ja dort hinten, hinter dem Bierwagen, vor dem Zaun, eine ausreichend große Fläche bestünde, teilt mir mein Gegenüber mit, dass es dort aber heute Abend laut würde. Zusammen mit den Gästen werde gefeiert, und das würde spät werden. Am anderen Ende des Platzes hingegen, dort, wo sein Wohnwagen steht, da könne ich mich dazwischen quetschen. Gemeinsam und das Rad schiebend pilgern wir an einem nach dem anderen Wohnwagen vorbei, bis wir an besagter Stelle ankommen. Ob mir der Platz genehm sei? Die sechs Meter zwischen den beiden Bäumen vor der Grundstücksgrenze reichen mir alle Male, und dass die nächsten Nachbarn keine 10 Meter weiter residieren, stört zumindest mich nicht – und die Nachbarn nehmen dem Anschein nach ebenso wenig Anstoß. Mein Platzanweiser hat mich gerade auf Zuruf vorgestellt – der Herr hier mit dem Rad bleibt für eine Nacht – und ist noch nicht wieder ganz Richtung Bierwagen entschwunden, da rückt man an, um mich per Handschlag zu begrüßen. Schnell sorgt mein Fortbewegungsmittel nach den üblichen Fragen des Woher und Wohin für weiteren Gesprächsstoff und ich erfahre nicht nur, wohin es meine neueste Bekanntschaft schon alles verschlagen hat, sondern ich bin auch direkt auf ein Würstchen vom Grill eingeladen. Auch wenn ich dankend ablehne, ich habe noch Brötchen in den Satteltaschen und meine Errungenschaften der 5-Sterne Metzgerei, die ich nicht verkommen lassen will, spricht sich meine Anwesenheit schnell herum und es rückt der nächste an, der sich mir vorstellt und erklärt, wo ich Toilette und Dusche finde und was bei der Bedienung letzterer zu beachten ist. Außerdem sei er ja auch viel mit dem Rad gereist, durch Deutschland, nach Italien, und sogar bis zum Nordkap. Hatte ich bis dahin mit meinen größeren Ausflügen zurück gehalten, bemerke ich, dass wir uns dann ja schon früher hätten begegnen können, wäre er nur ein paar Jahre später gefahren oder ich die entsprechende Zeit eher. Ja, nee, gibt es doch nicht! Noch jemand, der dort oben mit dem Rad hoch ist? Das ist doch ein Ding – der Mann ist ganz begeistert. Ich solle doch unbedingt gleich, nachdem das Zelt aufgebaut ist und ich geduscht bin, vorne bei ihm vorbei kommen. Da habe er einen Ordner mit Bildern seiner Tour. Warum nicht, gegen ein bisschen Unterhaltung will ich mich nicht wehren, und so werden nicht nur Erinnerungen geweckt, sondern ich zudem noch auf das eine wie andere Radler eingeladen, was mir dann schon fast peinlich ist, da mir eine Revanche nicht gestattet wird. Als mich nach meinem Abendessen vor dem Zelt der Durst noch einmal an den Tresen treibt, bleibt es mir nicht nur ein weiteres Mal verwehrt, meinen Deckel selbst zu begleichen, sondern ich werde auch direkt in die Sitten und Gebräuche der Camper eingeweiht. So wurde aus der Erforderlichkeit, sein Wohnwagengespann rückwärts einparken zu müssen, ein Wettbewerb, deren Gewinner gerade gekürt werden. Das Zentimeter genaue heran rangieren an eine hintere Begrenzung geht ebenso in die Wertung ein wie die Berücksichtigung der Straßenverkehrsordnung hinsichtlich des Respektierens von Stoppschildern, dem Gebrauch von Blinkern oder dergleichen mehr. Schon interessant, womit man sich die Zeit vertreiben kann, radelt man nicht durch die Lande …
Bei dichter Wolkendecke setze ich am Sonntag meinen Zeitvertreib fort. Über Delbrück gelange ich an die Grenze des Kreises Gütersloh, bevor in Paderborn nach einigen Schlenkern der Rundkurs für mich dort endet, wo er begann.
Einige Kilometer ehemalige Bahntrasse gestalten das dahin radeln recht mühelos, doch auch die von Feldern umgebenen Wirtschaftswege oder Landstraßen zwischen den Ortschaften erfordern keine besonderen Anstrengungen. Mit dem Steinhorster Becken lerne ich nicht nur ein ansprechend gestaltetes Naturschutzgebiet kennen, sondern finde darin ebenso einen Ort, an dem man unterhaltsam sein Frühstück genießen kann. Zahlreiche Spaziergänger wünschen einem einen guten Appetit, während der Blick über die weitläufige Wasserlandschaft schweifen kann, in der sich eine Vielzahl von Enten, Kormoranen und weiterem Federvieh tummeln.
Tummeln, allerdings auf der Straße, tun sich auch viele Rennradler, als ich an einem von den Nazis errichteten Lager bei Stukenbrock vorbei komme. Dort stehen an diesem Morgen die Tore offen, um den Pedalisten, die an einer Radtourenfahrt teilnehmen, den Zugang zum Start- und Ziel zu ermöglichen. In ihren bunten Trikots wird dort munter registriert, philosophiert und Kaloriennachschub organisiert, wo heute Polizisten geschult und während des zweiten Weltkriegs Kriegsgefangene geschunden wurden.
Nur unweit entfernt ist mir die Quelle der Ems einen Abstecher wert. Inmitten einer Senke der Heide- und Waldlandschaft müssen sich entsprechend der Hinweise eines Infozentrums eine Vielzahl von Rinnsalen vereinen, bevor sich der Fluss sichtbar durch die Senne schlängelt.
Unschwerer zu erkennen ist der Lippesee. Segler und Surfer schieben sich bei tief hängenden Wolken über das Wasser, als dieser zu später Mittagsstunde nach knapp 60 Tageskilometern zu meiner Rechten liegt. Entlang des ihn speisenden Flusses erreiche ich die nächste an der Route gelegene Sehenswürdigkeit – Schloß Neuhaus. Wo bis vor 200 Jahren die Fürstbischöfe Paderborns residierten, erhalten heute Schüler beigebracht, was für das Leben wichtig ist. Ich begnüge mich mit dem Blick auf die Gemäuer, versuche, bei nicht gerade berauschenden Lichtverhältnissen etwas vom Glanz des Gartens einzufangen, der anlässlich der Landesgartenschau 1994 nach Original Plänen neu angelegt wurde, bevor ich den Paderquellen entgegen radle und sich der Rundkurs schließt.
Der Rückweg mit der Bahn gestaltet sich glücklicherweise unkomplizierter als die Anreise, was daran liegen mag, dass Paderborn die eine Endhaltestelle des Regionalexpresses darstellt, der mich nach Köln bringt. Ebenso wie die vier Düsseldorfer Radler, die von Zuhause in die Pedalen getreten waren, finde ich einen ordentlichen Stellplatz für meinen Drahtesel sowie eine Sitzgelegenheit für mich. Erst im Verlauf der Fahrt durch das Ruhrgebiet füllen sich die Wagen zusehends, bis es am Rhein schwierig wird, das Rad aus der Bahn heraus zu bugsieren und ich, wie bereits Eingangs zitiert, froh bin, das Leben nicht länger in vollen Zügen „genießen“ zu müssen.