La Vuelta - Formentera, einmal außen rum (III)
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Ein sanfter Hauch weht über die Terrasse, in den Bäumen rascheln die Blätter. Ich blicke auf. Verlasse die letzten Tage auf Island, die ich unter den Fingern auf der Tastatur meines Netbooks Revue passieren ließ und steige ein in eine Zeitmaschine. Zeitreise – was an sich nicht geht, geschieht. Ein knappes Jahr aus der Vergangenheit in die Gegenwart in nur wenigen Augenblicken. Juli 2016 bis Juni 2017 in den Sekunden die es benötigt, langsam den Kopf zu heben und zu realisieren, wo man sich befindet. Temperatursprung inklusive. Auf der Insel im hohen Norden musste ich trotz mehrerer Lagen Bekleidung zusehen, nach einigen Minuten Pause wieder in Bewegung zu kommen, im Hier und Jetzt bin ich im leichten T-Shirt dankbar für den Luftzug, der mir über die Haut streicht. Anstatt trister Lavafelder um mich herum ein unbewirtschafteter Acker vor mir, rechts und links Bäume und Büsche, im Hintergrund das Meer. Dank Einsatzes der Kettensäge wenige Tage zuvor sogar wieder sichtbar. Darüber ein strahlend blauer Himmel statt tief hängender, grauer Wolken. Dennoch – ich möchte keinen Tag der acht Wochen missen, die ich mich auf meinem Liegedreirad die Hügel empor und gegen den Wind kämpfte, Formentera entgegen, wo ich jetzt wieder sitze, wo Zikaden zirpen, Vögel zwitschern und gelegentlich Hunde bellen oder ein Hahn kräht. Mit der Rohfassung meiner Vergangenheitsbewältigung bin ich nahezu durch. Sätze, die in meinem Reisetagebuch häufig genug anders endeten als sie begannen, sollten lesbarer sein, einen Sinn ergeben. Einige Male waren mir während meiner Tour beim Festhalten von Erinnerungen am Abend nach vollbrachtem Tagewerk die Augen zugefallen, im Nachgang nutzte ich die wacheren Augenblicke. Doch jetzt, wo der Blick über den Horizont schweift, komme ich ins Grübeln. Drei Stunden sitze ich schon wieder über den Erinnerungen, da wäre es an sich an der Zeit, sich mal wieder ein wenig zu bewegen. Ein spontaner Gedanke lässt mich nicht mehr los. Warum nicht mal wieder die Insel umrunden? Das Boot liegt noch am Strand, die Voraussetzungen sind günstig. Der Wind bläst aus Ost, laut Internet mit drei Beaufort. Ideale Verhältnisse, das Segel zu setzen.Ich denke nicht all zu lange nach. Handeln statt grübeln. Greife zum Telefon, hake bei Walter am anderen Ende der Insel nach, ob ich bei ihm morgen meinen Kahn über Nacht liegen lassen kann, neben den Kajaks und Katamaranen, mit denen seine Kundschaft tagsüber das Wasser pflügt.
„Klar, kein Problem, komm vorbei.“
Im Gegensatz zu den beiden voran gegangenen Anläufen will ich es diesmal gemächlicher angehen lassen. Will die Umrundung in drei Tagesetappen aufteilen anstatt in zwei. Ist ja auch bereits Mittag. Bis zur Lagune am Hafen sollte ich es im Uhrzeigersinn bis sechs/sieben Uhr aber noch schaffen. Zügig packe ich mein Geraffel zusammen. Schwimmweste, Neoprenanzug, Mütze, Handtuch und Tretantrieb sind schnell in den Rucksack gequetscht, der Rest liegt bereits mehr oder minder griffbereit in der Garage – das auf dem Mast aufgerollte Segel, das darauf gebundene Paddel, die Tasche mit den Gestängen zum Verbinden der beiden Ausleger mit dem Rumpf meines Geschosses. Als alles dort ist, wo es hin gehört, aufgebaut und klar zum Start in die Fluten, ist es zwei. Gute vier Stunden für den Weg um das Kap, vorbei an der Cala Sahona, weiter Richtung Hafen? Knapp, aber machbar. All zu viel Kreuzen sollte nicht nötig sein, der Wind für 10 km/h über Grund ausreichen. Die Rechnung scheint aufzugehen. Die Kilometer vom Ende des Migjorns zum Leuchtturm sind einigermaßen rasch bewältigt. Wie viele es sind – ich zähle diesmal nicht. Das GPS Gerät kommt nicht mit. Diesmal ist die elektronische Orientierungshilfe überflüssig. Immer an der Küste entlang, manches Mal nur einen Steinwurf vom Land entfernt. Ein Weg, der nicht zu verfehlen ist. Um einen Blick in alle Höhlen zu werfen, an denen ich vorbei komme, bleibt keine Zeit. Ist allerdings auch kein Beinbruch. Ein paar Tage zuvor erst war ich die sieben/acht Kilometer ohne Ausleger und Segel pedaliert und war dabei in einige der Felsspalten eingedrungen, in die ich jetzt ohnehin nicht passen würde. Zu eng für den Trimaran, möglicherweise würde ich auch mit dem Mast an manch einer Decke hängen bleiben. Dazu kommt, dass das Meer bewegter ist als zuletzt. Aufgewühlt sieht zwar anders aus, ruhig jedoch ebenso. Komme ich der Steilküste zu nah, wird es kabbelig. Das gegen die Felsen schlagende Wasser löst sich nicht in Luft auf, muss irgendwo hin, trifft beim Zurückschwappen auf nachrückende Wassermassen. Bleibe ich ausreichend weit von der Küste entfernt, gelingt es mir zu surfen – das Kajak wird von den Wellen getragen. Einzig kleiner Haken dabei: das Steuern leidet. Schlage ich das Ruder zu hart ein, befürchte ich zu kentern. Wie ich es aber auch anstelle, es bleibt eine nasse Angelegenheit. Mehrfach werde ich geduscht, der lange Neoprenanzug bewahrt mich aber davor, im realen wie im Fahrtwind zu frösteln.
Nachdem das Kap umrundet ist, ist weniger Bewegung im Wasser, der Wind jedoch launiger. Ich segle halbwegs im Windschatten der Steilküste. Über die Klippen stürzende Fallwinde lassen das Segel mal flattern, mal knallen. Bestimmt nicht ideal für den Kunststoff, in dem ich zwei erste kleinere Risse erst unlängst mit Panzertape flickte, doch das „Tuch“ nimmt keinen weiteren Schaden und ich mache weiterhin Fahrt. Kurz vor Erreichen der Cala Sahona wird es auf noch andere Art unruhig. Vor einem Felsvorsprung liegen ein paar Megayachten. Einfaches Ankern aber scheint manch einem der Angereisten zu langweilig, und so vertreibt man sich die Zeit damit, mit Jet-Skis über die Wellen zu flitzen. So sehr die Geschwindigkeit den Fahrern einen Adrenalinschub verpassen mag, so sehr nervt mich das Getöse. Doch was soll's – muss ich halt durch, habe ja ansonsten auch meinen Spaß. Ein besonderes Vergnügen ist es mir hingegen, zwischen den ungleich teureren Booten hindurch zu kreuzen. Dabei erfreue ich mich an der Vorstellung, dass ich meinen Kahn bestenfalls eintauschen würde, um mir vom Verramschen einer Yacht ein neues Kayak leisten zu können und ich mir zudem weniger Gedanken hinsichtlich des Bestreitens meines Lebensunterhaltes machen müsste. Ob ich mich als Besitzer oder Charterer eines der um mich herum befindlichen Gefährte glücklicher fühlen würde, wage ich zu bezweifeln. Ist Zufriedenheit steigerungsfähig? In einer solchen genieße ich mein minimalistischeres Dasein, greife zum Rollbeutel hinter mir und hole mein Mittagessen nach: Bocadillo con queso – ein paar Scheiben Käse auf einem aufgeschnittenem Baguette. Einfach, aber gut. Immer nur Sekt und Kaviar dürfte auch nicht besser sein. Gut in Zeit lasse ich mich durch eine größere Grotte treiben. Das Gewölbe ist hoch genug für meinen Mast, der Schatten nicht unangenehm. Von den weißen Rändern, die sich auf meiner zweiten Haut abzeichnen, weiß ich nicht, woher sie stammen. Die Salzkruste kann ebenso vom Spritzwasser her rühren als auch von dem, was mein Körper absondert. Im Windschatten der Steilküste ist es warm geworden.
Rummelig geht es zu, als ich die Cala Sahona zur Rechten habe. Die Bucht quillt über. Am Strand liegt man Handtuch an Handtuch, auf dem Wasser sieht es kaum anders aus. Wie viele Boote dort liegen, zähle ich vorsichtshalber nicht. Die Bucht ist übersät von ihnen. Irgendwann einmal überschlug ich oben von den Felsen aus, dass es hundert sein müssten. Weniger werden es an diesem Dienstag Nachmittag auch nicht sein.
Hinter dem Maurenturm ist Kreuzen angesagt. Segeln gegen den Wind, das klappt nicht. Auch ohne Bootsführerschein und Segelkurs bleibt diese Erkenntnis nicht lange ein Geheimnis. Bei kurzen Wellen ziehen sich die Kilometer. Schließlich liegen die Piscinas naturales, die natürlichen Schwimmbecken, in die Mutige von den Felsen aus springen, hinter mir und Hafen wie Lagune vor mir. Ein Blick auf die Uhr zeigt – noch vor halb sechs. Sollte das Unterbringen meines gelben Unikums also kein Problem darstellen. Zunächst aber steht noch die Einfahrt in die Lagune bevor. Die mit Bojen markierte Fahrrinne zu treffen ist nicht das Riesenthema, als ich dann aber auf die Segelschule zuhalte stelle ich fest, dass selbst der geringe Tiefgang meines Kahns kein Garant dafür ist, nicht dennoch in der Pfütze aufzusetzen. Als das Schwert im Boden stecken bleibt, reffe ich das Segel, klappe das Ruder hoch, ziehe Tretantrieb sowie den Übeltäter und greife zum Paddel. Augenblicke später ziehe ich die Konstruktion, die mich bis hierher getragen hat, aus dem Wasser. Schnell ist jemand gefunden, dem ich erkläre, womit er mir weiterhelfen kann. Er hilft mir weiter, womit die erste Etappe beendet ist. Man gestattet mir, das Boot auf dem Gelände liegen zu lassen, zeigt mir, wo ich meine Ausrüstung über Nacht vor unerbetenem Zugriff deponieren kann und gibt sich interessiert an meinem Vehikel. Begleitet von den besten Wünschen mache ich mich eine halbe Stunde später auf den Weg zurück zum Haus.
Der Ortsausgang La Sabinas ist noch lange nicht erreicht, da habe ich Glück. Mein am ausgestreckten Arm in die gewünschte Fahrtrichtung gezeigter Daumen bewirkt, was er bewirken sollte. Ein Wagen hält. Überrascht bin ich, wer mir die Beifahrertür öffnet. Bartollo. Die gute Seele, die Ute, die Kinder und ich kennen lernen durften, als wir einst in dessen Ferienhaus einen Urlaub verbrachten, der Mann, der uns zu unserem eigenen Häuschen verhalf und der immer wieder einspringt, wenn Not am Mann ist. Wie es der Zufall will, ist Bartollo gerade auf dem Weg zu unserem Haus. Mehr oder weniger. Aktuell ist keine Katastrophe zu bekämpfen. Bei einem Nachbarn soll er nach dem Rechten schauen. Stolz erfahre ich während der kurzen Fahrt außerdem, dass Bartollo wenige Tage zuvor eine Premiere feiern durfte – Sohn und Schwiegertochter machten ihn und seine Frau zu Opa und Oma. Glückwunsch.
Auch am nächsten Morgen brauche ich nicht lange laufen. Der erste Abzweig des Weges zur Inselhauptstadt ist gerade passiert, da stoße ich auf wohl gesonnene Mitmenschen. Ein italienisches Pärchen, das mit ihrem Mehari nahezu den gleichen Weg hat wie ich. Man hat am Hafen etwas zu erledigen. Die beiden sind quasi Nachbarn, nur dass sie eines der nebenan vermieteten Apartments zweimal im Jahr für einige Wochen beziehen. Er macht den Beifahrersitz frei, so dass ich auf die schmale Rückbank rutschen kann. Mein Gepäck werfe ich auf die nicht viel größere Ladefläche hinter mir. In radebrechtem Englisch bekomme ich diesmal zu hören, dass meine Chauffeure Mailänder sind. Dem Bekunden nach liebt er Köln, den Ort, an dem ich bei Wahlen meine Kreuzchen machen darf. Die Stadt ist ihm von einer alljährlich stattfindenden Messe ein Begriff. Für den Fall der Fälle reiche ich ein Kärtchen rüber. Vielleicht kann ich mich ja eines fernen Tages mal revanchieren. Begeistert sind die beiden als ich erzähle, dass ich vor zwei Jahren auf dem Weg nach Formentera nahezu an deren Haustür vorbei geradelt bin und ich nette Erlebnisse mit ihren Landsleuten verbinde. Das Tor der Segelschule ist schließlich schneller erreicht, als unsere Unterhaltung beendet. Wir quatschen noch ein wenig auf der Straße weiter, dann hupt jemand hinter uns und ich verabschiede mich von den Nächsten, die ihren Beitrag leisteten, dass ich das Eiland einfach und unkompliziert umrunden darf.
Die Begrüßung bei den Wassersportlern ist nicht minder herzlich. Man befindet sich noch bei den ersten Handgriffen des Tages, es drängen noch keine Kunden und man ist gut gelaunt. Mein Boot hätte schon Interesse geweckt. Wäre mir daran gelegen, es gäbe bereits potentielle Käufer. Auch mit den Surf- und Segellehrern komme ich irgendwie auf das Thema Radreisen zu sprechen und schnell verfliegen weitere Minuten. Als ich schließlich gegen elf die Wiese hinter mir lasse und erneut in See steche, winken mir ein paar Hände hinterher. Außerdem bekomme ich mit auf den Weg, bis Espalmador so weit wie möglich unter Land zu bleiben und es steht das Angebot, dass ich bei nächster Gelegenheit ein gern gesehener Gast sei.
An einem vor mir durch die Lagune kreuzenden Segelboot orientierend drehe auch ich eine Runde durch ein mir bis dahin nur vom Ufer aus bekanntes Gewässer. Ein netter Anblick, doch letztendlich nicht so viel anders, wie von Land aus. Erneut mit einem wachen Auge auf die Fahrrinne geht es anschließend zurück auf die offenere See. Wie schon am Vortag, geht es auf den nächsten paar hundert Metern kreuzend weiter. Diesmal will die Hafenein- beziehungsweise -ausfahrt kollisionsfrei passiert werden. In Anbetracht des herrschenden Linienverkehrs kein triviales Unterfangen, letztendlich aber auch kein unmögliches. Ich warte das Wendemanöver einer Autofähre ab, dann schlüpfe ich durch eine Lücke im Fährplan. Entlang des Strandes geht es über die Salzmühle Richtung Espalmador weiter. Wie bereits die Cala Sahona, so ist auch der Illetas gut besucht – zu Land wie auf dem Wasser. Auch hier eiere ich mit meiner Nussschale respektlos zwischen den Yachten hin und her und versuche mir vorzustellen wie es aussähe, wenn der Gegenwert der mutmaßlich nicht gerade preiswerten Spielzeuge in Gefährten wie meinem unterwegs wäre. Mit Sicherheit auch nicht gerade der Anblick den man sich wünscht, soviel Plastik auf dem Wasser, doch irgendwie amüsiert mich die Vorstellung einer riesigen Armada dreirümpfiger roter oder gelber Gefährte. Ein paar Tage später, auf meiner Rückreise, soll ich auf dem Weg von Formentera nach Ibiza die derzeit teuerste Yacht der Welt sehen. Sailingyacht A. Fünf Nullen mehr als mein Kahn soll sie gekostet haben – vor dem Komma. Eine Flotte aus einhunderttausend kleinen Trimaranen ließe sich damit auf das Wasser bringen. Unglaublich. Die entsprechende Anzahl an Kapitänen ließe sich auf Formentera gar nicht zeitgleich unterbringen. Die Kapazität der Betten würde nicht einmal zur Hälfte ausreichen. Aneinandergereiht könnte man etwa fünf Boote nebeneinander zwischen Formentera und dem Festland unterbringen. Statt dessen aber darf sich ein Eigner daran erfreuen, eine Segelfläche eines halben Fußballplatzes setzen zu können. Doch was zerbreche ich mir den Kopf mit derlei Zahlenspielen. Weder ändere ich damit etwas, noch trübt oder steigert es mir das Vergnügen an diesem schönen, sonnigen Tag mit Windverhältnissen wie tags zuvor.
Hinter einem kleinen vorgelagerten Riff vor der Südwestküste Espalmadors lege ich eine kurze Pause ein. Einen gut fünfzig Meter langen Strandabschnitt brauche ich mir mit niemandem zu teilen und auch beim Schwimmen laufe ich keine Gefahr, mit wem auch immer zusammen zu stoßen. Das Ausflugsboot hat gerade abgelegt, die Yachtis bleiben lieber unter sich. Mir ist es recht. Stört es keinen, sollten mir bei der Siesta leichte Schlafgeräusche entweichen.
Die Querung der Nordspitze Formenteras ist wie erwartet schaukelig. Dort, wo die Wassermassen von Llevante und Illetas aufeinanderstoßen, bekomme ich den einen wie anderen salzigen Spritzer ab – von Osten her rollen größere Wellen heran. Nachdem ich jedoch über die Brandung hinweg bin, kehrt schnell wieder Ruhe ein. Ich segle noch ein Stück Richtung Ibiza, vorbei an dem Schlammloch auf Espalmador, bis ein Leuchtturm in Sichtweite kommt. Zeit umzukehren, Es Pujols entgegen zu steuern. An den Stränden im Nordosten Formenteras ist nicht viel los. Die Schaumkronen auf dem Wasser sind nicht massenkompatibel. Vielleicht sind es aber auch Quallen, die den Spaß am Tollen in den Wogen bremsen. Zumindest weiter draußen entdecke ich einige der Plagegeister.
Bei nachlassendem Wind erreiche ich das touristische Zentrum der Insel gegen vier. Auch bei Walter herrscht nicht gerade Hochbetrieb am Strand. Zwei Katamarane seiner Flotte sind auf dem Wasser, der Großteil an Surfbrettern, Kajaks und sonstigen schwimmfähigen Materials wartet jedoch auf seinen Einsatz. Ich quatsche noch ein wenig mit den üblichen Verdächtigen an der Surfbude, dann sehe ich zu, Nachhause zu kommen. Diesmal laufe ich ein paar Schritte weiter. Vom Strand bis zur Straße kann ich niemanden dazu bewegen, anzuhalten. Auch auf dem Asphalt warte einige Minuten, bevor jemand stehen bleibt. Maria aus der Segelschule ist mir keine Hilfe. Sie fährt nur die paar Meter bis ins Dorf. Mehr Glück habe ich mit Piet – ein mir ebenfalls nicht ganz unbekannter Zeitgenosse. Mit einem kleinen Zwischenstopp unterwegs nimmt er mich mit bis San Francisco.
„Du hast Glück, dass nicht die Polizei vorbei kam. In Spanien ist Trampen verboten. 50 Euro hätte dich der Spaß kosten können. Und an sich darf ich dich auch nicht mitnehmen. Mir dürften sie 150 Euro abknöpfen. Aber die drehen hier sowieso am Rad. Ebensowenig darfst du draußen schlafen. Noch nicht einmal am eigenen Haus. Und wer sich beim Sex in der Öffentlichkeit erwischen lässt, wird mit bis zu 15.000 Euro zur Kasse gebeten.“
Vor dem Supermarkt stehend ereifern wir uns noch eine Weile darüber, dass auch auf Formentera immer mehr das Geld regiert, selbst unabhängig vom Paaren unter freiem Himmel, dann trennen sich unsere Wege. Piet steuert mit dem Einkaufswagen dorthin, wo ohne Moos nichts los ist, ich mit meinem Rucksack auf dem Rücken gen Ortsausgang. Auch der in Aussicht gestellte halbe Hunderter Bußgeld kann mich nicht davon abhalten, erneut am Straßenrand vorbei fahrenden Autos den ausgestreckten Daumen zu zeigen. Vielleicht sollte ich nur zusehen, mich nicht gerade von Ordnungshütern auflesen zu lassen. Die Italienerin, die mich die letzten zwei Kilometer mitnimmt, scheint eine ähnlich entspannte Sichtweise zu haben. Ganz anders hingegen ihr Fahrverhalten. Wer ihr in den Weg kommt, wird beiseite gehupt. Mit dem Rad unterwegs wäre ich nicht ganz einverstanden mit ihrer Mentalität, vom Beifahrersitz aus aber sehe ich die Sache toleranter. Andere Länder, andere Sitten. Amüsiert bin ich, als auf der einspurigen Fahrbahn ein Entgegenkömmling nicht auf das Horn reagiert und auf seine Vorfahrt besteht – Zurücksetzen scheint nicht die Stärke der Dame neben mir zu sein.
Rücksichtsvoller geht es am nächsten Morgen zu. Die junge Hotelangestellte, die mich Platz nehmen lässt, hat es weniger eilig. Gabelt sie mich zunächst mit den Worten auf, dass sie mich nur bis San Fernando mitnehmen könne, da sie dort etwas abzuholen habe, disponiert um, als sie dort nicht auf Anhieb einen Parkplatz findet. In Es Pujols habe sie auch noch Dinge zu erledigen. Ich interveniere nicht und bin so Minuten später dort, wo es mich hin zieht.
Weniger gut hingegen meint es der Wind für die Schlussetappe mit mir. Laut Wettervorhersage bläst nur ein laues Lüftchen aus Ost – Windstärke eins. Bestenfalls ein Hauch in Schrittgeschwindigkeit. Doch egal, ich kann es nicht ändern. Um elf verlasse die Segelschule – mehr vor mich hin dümpelnd als mit Wind im Laken. Bis an den Fuß der Punta Prima halte ich durch, dann habe ich genug. Trete in die Pedale. Mit den Auslegern rechts und links bin ich zwar nicht deutlich schneller als der Wind, immerhin aber gelange ich direkt in dessen Herkunftsrichtung und damit voran. Nach der Umrundung des Felsens lasse ich mich treiben. Vorbei an einer Höhle oder Grotte nach der anderen. Manch eine ist eingestürzt, eine sieht aus, als sei ihr ein Zacken aus der Krone gebrochen, nirgends fällt jedoch ein Lüftchen über die Klippen und begünstigt mein Fortkommen. Erst ab der Cala En Baster gewinne ich langsam an Fahrt. Schnorchelt in der Bucht noch jemand, so ist entlang der zerklüfteten Küste bis Es Calo kaum noch eine Menschenseele zu entdecken. Ein paar verstreute Ferienhäuser sowie Villen mit Meerblick, eine handvoll Fischerboote, das war's. Erst rund um den kleinen Ort mit Fischerhafen sonnen sich ein paar Leute am Strand, deutlich weniger tummeln sich im Wasser. Entsprechend ignoriere ich die Bojen, die die Schwimmer vor den Skippern schützen sollen. Zum einen ist niemand so weit draußen, zum anderen schiebt mich der Wind nur in gutem Schritttempo voran. Hinter dem Ort trotzen schließlich wieder nur noch versprengte Hartgesottene dem rauen Untergrund. Das Wasser teile ich mir mit zwei Pärchen, die in Kajaks sitzend mit den Paddeln das Wasser umrühren. Ohne eine Gegenreaktion zu erhalten grüße ich herüber, schaue allerdings nur in entgeisterte Gesichter. Erst nach einem Blick in eine Höhle am Fuße der Mola, Formenteras Hochebene, sehe ich, dass die Kajaks zu einer Motoryacht gehören, die ein paar Meter weiter vor Anker liegt. Wahrscheinlich ist man damit 'was Besseres. Wie dem aber auch sei, mit dem Erreichen des Hügels, an dem sich der Römerpfad entlang schlängelt, steht der nächste Richtungswechsel bevor. Es geht wieder gen Nordost und ist ein Trauerspiel. Egal ob ich unter Land bleibe oder mich von den Felsen hundert Meter entferne, das Segel hängt schlapp am Mast. Erneut darf ich mich abstrampeln, in den Pedalantrieb treten. Wie Treppen steigen. Links, rechts, links, rechts, links, rechts und immer so weiter. Segeln ohne Wind ist doof, schießt es mir wie ein Mantra durch den Kopf. Irgendwann fange ich an, meine Tritte zu zählen. Bei 743 komme ich vorbei an der Fischerhütte, bei der ich Jahre zuvor beim ersten Versuch einer Inselumrundung aufgab. Der Rumpf meines Kajaks hatte einen Riss und stand voll Wasser. Bereits damals hatte ich mich gefragt, wie man zu der Stelle gelangt und wer es sich antut, mit seinem Fang den gut und gerne hundert Meter hohen Hang hinauf zu kraxeln. In Anbetracht anderer Probleme hatte ich mir jedoch keine weiteren Gedanken gemacht, sondern den Rückweg nach Es Calo eingeschlagen, wo mich am Strand eine barbusige Schönheit mit den Worten empfing, ob ich mit dem Boot bis Barcelona käme. In dem Moment die falsche Frage. Ich hatte meine eigenen Schlüsse bezüglich optischer Attraktivität und anderen Qualitäten gezogen. Diesmal hingegen hält der Kahn dicht und ich stelle fest, dass irgendjemand eine Antwort haben sollte, wie man den Hügel rauf beziehungsweise runter gelangt. Immerhin macht die Fischerhütte einen genutzten Eindruck.
Es folgen entlang der steiler ansteigenden Küste weitere imposante Klippen, Höhlen und schließlich der Leuchtturm. Formenteras Unterbau erscheint aus dieser Perspektive löcherig wie ein schweizer Käse – egal ob Barbariakap, Punta Prima oder halt die Mola. Ebenso ortsunabhängig ist das Muster auf meinem Neoprenanzug. Erneut zieren weiße Ränder den schwarzen Kunststoff. Wären die Farben vertauscht, ginge es vielleicht als Safari-Look durch. Zebra – nur anders herum. Diesmal können es keine Wasserspritzer sein. Das Meer ist spiegelglatt. Kein Luftzug weht darüber. Mich aus meiner Pelle befreien mag ich dennoch nicht. Wahrscheinlich wäre ich innerhalb kürzester Zeit puterrot. Die Sonne knallt erbarmungslos. Um drei lege ich eine Pause ein. Bis zum Leuchtturm wollte ich aushalten, bis zum Leuchtturm halte ich aus. Das Zählen habe ich bei tausend aufgegeben. Bringt ja nichts. Habe statt dessen die Klippen bewundert. Mich an der Grotte erfreut, die sich in zwei Säle teilt, Ausschau gehalten nach der Crimson-Höhle, in der noch immer ein Bagger vor sich hin rostet, und festgestellt, dass für manche Dinge mein Blickwinkel der falsche ist. Anderes hingegen ist von Land aus nicht zu sehen – nicht nur unter diesem Aspekt lohnt sich also die Tour.
Während die Beine ruhen, lasse ich es mir schmecken. Ist zwar nur ein karges Mahl, jedoch überfällig. Banane, Brötchen, Wasser – süßes. Brachte ich an den beiden voran gegangenen Tagen die Flasche immer noch leicht gefüllt wieder zurück mit nach Hause, so sehne ich diesmal eine zweite herbei und überlege bereits, die nächste Yacht um eine Füllung anzubetteln. Dass es soweit nicht kommt verdanke ich dem Umstand, dass keine nächste Yacht in Sicht ist. Statt dessen begnüge ich mich damit, das umgebende Nass abzuschöpfen und durch den Neoprenanzug laufen zu lassen. Duschen für Anfänger. Hilft zwar nicht gegen die trockene Kehle, tut aber dennoch gut.
Nach etwa einer halben Stunde ohne messbaren Fortschritt hinsichtlich der noch zurückzulegenden Strecke trete ich weiter. Knappe zwei Kilometer später werde ich erlöst. Auf der Südseite der Hochebene füllt Wind das Segel. Nicht viel doch es reicht, ebenso schnell voran zu kommen wie aus Muskelkraft. Ab Es Ram habe ich dann wieder bekanntes Terrain vor mir. Ungezählte Male kreuzte ich den Migjorn zwischen der Pelayo Bar und der kleinen Bucht rauf und runter, selten freute ich mich so sehr sie zu erreichen. Immerhin ist die Entfernung von dort aus zur nächsten Strandbude fast überschaubar. Als ich am Piratabus mein Gefährt auf den Sand ziehe, ist es fünf. Ohne mich meiner zweiten Haut zu entledigen stapfe ich mit gefühlt längeren Beinen die paar Meter über den Bretterweg hoch zum dicht umlagerten Chiringuito. Zwei Glas Cola sind fast ebenso rasch serviert wie geleert. Das erste auf jeden Fall, mit dem zweiten lasse ich mir geringfügig mehr Zeit. Augenblicke später stürze ich mich kopfüber in die Fluten. Das Ergebnis: der Neoprenanzug sieht aus wie neu. Hätte ich vielleicht noch vor dem Gang an den Tresen machen sollen, doch Durst kommt vor Etikette, nicht nur im Wörterbuch. Hinzu kommt, dass mich dort, von Zufällen vielleicht abgesehen, niemand kennt – ich zähle mich an der Seeräuberbar nicht zu den Stammgästen.
Was folgt ist der Endspurt. Spurt? Nun ja, eher ein Vorbeigleiten an den Strandbars und -lokalen, an La Fragata, 10.7, Voga Mari, Es Codol Foradat, ehemaligem Las Banderas, Blue Bar, Lucky, Real Playa, Formentera Playa, Gecko Beach Club, 62, Sa Platjeta und Sol y Luna. Die Kilometer ziehen sich abermals, doch zumindest brauche ich nicht zu trampeln. Als ich kurz unterhalb der Casa Lipski meinen Kahn dort an Land ziehe, wo ich zwei Tage zuvor startete, ist es halb sieben und ich bin geschafft. Dass die Umrundung der Mola zu Wasser so in die Beine gehen würde, traf mich unerwartet. Insgesamt habe ich an diesem Tag bestimmt 20 Kilometer tretend zurück gelegt. Meine erste (gelungene) Umrundung blieb mir einfacher in Erinnerung. Unterm Strich aber geht es mir wie auf Island, wo ich es hingegen häufig genug weniger Wind war, den ich mir wünschte: kein Grund zur Reue. Alles ist gut, wie es ist. Oder aber, wie man es in der Wahlheimat ausdrücken würde: nix is ömesöns. Wat nix kost, dat is och nix …