zum Forellenessen in's Sauerland
… auf der Karte
… in Bildern
… in Worten
„Traditionen verbinden“ - unter diesem Motto steht Ostern 2017. Die eine, die langjährigere, kam in den vergangenen Jahren häufig genug zu kurz: das Forellenessen im Kreise der Familie im Sauerland, in der Brenscheider Mühle. Die andere, die jüngere, wurde 2012 mit einer Tour entlang der Mosel geboren: Radeln über die Feiertage. Vor zwei Jahren gab es einen ersten Anlauf, beides miteinander in Einklang zu bringen: Karfreitag mit dem Auto zum Essen fahren, Ostersamstag dann der Tritt in die Pedale, seinerzeit in die Eifel.Die Lösung für 2017 ist eine andere: mit dem Rad von Köln zur Fischbraterei. Da mir die gut hundert Kilometer für einen Vormittag ein wenig zu viel des Guten sind, heißt der Kompromiss diesmal, bereits Gründonnerstag zu starten. Zunächst allein. Ute hat weder frei noch reizt sie die Strecke durch das Bergische sonderlich. Sie kommt mit dem Rad nach. Im Auto, um dessen Rücktransport sich nach verspeistem Grätentier unser Sohn samt Freundin kümmert.
Eine Strecke von der quirligen Domstadt am Rhein in das verschlafene Tal in der Nähe Lüdenscheids ist dank NRW Radroutenplaner schnell erstellt. Das Land verfügt schließlich über ein breit gefächertes Wegenetz, einige davon erscheinen mir verkehrsarm genug, als dass ich sie für genehm erachte. Auch der weitere Streckenverlauf zu Rüdiger und Birgit, unseren Freunden in Unna, bereitet keine Probleme. Der Anteil der Wege mit Gefälle ist größer als der mit Steigungen, gute 40 Kilometer sollten zudem an einem Nachmittag selbst mit voll gefuttertem Bauch zu bewältigen sein. Das Tagesprogramm für Ostersamstag bedarf keiner Vorbereitung. Abhängig vom Wetter geht es gemeinsam mit den Freunden an die frische Luft oder auch nicht. Ebenso unkompliziert verhält es sich mit dem Rückweg: eine Kombination aus bereits Bekanntem. Ruhrtal Radweg bis Hattingen, von dort über Nordbahn- und Balkantrasse weitestgehend steigungsarm auf einstigen Schienenwegen zurück nach Kölle. Einzig kleiner Haken: preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten entlang der Strecke. Am besten Zeltplätze. Oder Warmshowers Gastgeber. Beides entpuppt sich nach einem Blick in entsprechende Karten als Fehlanzeige. Wildcampen? Wegen meiner gerne, lediglich fließendes Wasser zum Duschen wäre nicht schlecht. Utes Ansprüche gehen noch darüber hinaus. Warm sollte es sein, das Wasser. Und eine richtige Toilette sollte es geben.
Einen Abend vor dem Start in das Abenteuer werde ich beim Überprüfen der Strecke auf dem Openstreetmap Kartenmaterial fündig. An der anvisierten Glörtalsperre findet sich ein Zeltplatzsymbol. Im Autobahnkreuz Wuppertal-Nord entdecke ich ein weiteres. Mit frischem Eifer wird recherchiert, was sich dahinter verbirgt. Die Euphorie erhält einen ersten Dämpfer. Die Internetseite der Camper im Sauerland wendet sich ausschließlich an Dauergäste, die Wuppertaler Zeltwiese ist bei genauerem Hinsehen das Vereinsgelände von Nudisten. Unmittelbar vor meiner Abfahrt gelingt es mir, unter der Rufnummer der Freikörperkultur-Aktivisten einen von ihnen zu erreichen. Ja, das mit dem Camping, das sei so eine Sache. Natürlich gestatte man diese Form der Übernachtung, ich müsse allerdings Vereinsmitglied sein. Entweder bei den Wuppertalern oder dem übergeordneten bundesweiten Dachverband. Muss ich natürlich passen. Wenn ich mich wo auch immer unbekleidet bewege, dann pflege ich das unorganisiert zu tun. Wie es denn mit dem ADFC aussähe, den Radlern? Sind ja quasi auch Naturisten. Ob es da eine Kooperation zwischen den Vereinen gäbe? Fehlanzeige! Ich fahre nochmals alles an Geschützen auf, was ich habe. Diverse Radtouren, unkomplizierte Unterstützung, dass ich selbst bevorzugt unbekleidet baden gehe und mich textilfrei am Strand bewege, dass ich anderen Menschen helfe, wenn es geht – meine Worte stoßen zumindest nicht gänzlich auf taube Ohren. Ich möge mein Anliegen noch einmal in knappen Worten schriftlich herantragen, mein Gesprächspartner werde sich wohlwollend an den Vereinsvorstand wenden, könne mir aber selbstverständlich keine Zusagen machen. Natürlich. Überhaupt, auch die Wetterprognose ist ja nicht so ganz vielversprechend. Ob im Fall der Fälle jemand vor Ort ist, der Einlass gewähren kann? Man werde sehen, aber einen Versuch sei es ja wert. Entsprechend greife ich noch einmal zur Tastatur, fabuliere ein paar Zeilen, drücke auf Senden und ab geht die Post. Sowohl die elektronische als auch die auf dem Rad.
Als um kurz vor elf alles Gepäck am Liegedreirad verstaut und verzurrt ist und ich das Gefährt in Schwung bringe, fallen die ersten Regentropfen. Zum Glück lassen sie sich fast zählen. Ohne ernsthaft nass zu werden bewege ich mich die ersten Kilometer auf bekanntem Terrain: Gut Leidenhausen, Königsforst, Bensberg, Herkenrath – die Strecke ist einigermaßen vertraut. Nur wenige hundert Meter abseits der Route liegen die Geschäftsräume des Radhändlers, über den ich meinen fahrbaren Untersatz bezog. Einen Abstecher zu ihm hin verkneife ich mir. Zum einen hat der Laden Donnerstags nicht geöffnet, zum anderen gäbe es keinen triftigen Grund, um die Ecke zu schauen. Das Vehikel surrt ohne Auffälligkeiten über den Asphalt, sofern es nicht über Waldwege rumpelt.
Anschließend befahre ich für mich Neuland. Nahezu. Wipperfürth durchquerte ich zwar bereits schon einmal, als ich der Wupper aus ihrem Quellgebiet bis zur Mündung in den Rhein folgte, diesmal erreiche ich den Ort jedoch aus anderer Richtung und verlasse ihn ebenso nicht auf den Pfaden, die den Fluss begleiten. Lediglich der Abstecher auf den Marktplatz weckt Erinnerungen. Hielt ich in Kürten noch vergeblich Ausschau nach einer Bäckerei oder Metzgerei, so habe ich in dem vertrauteren Städtchen mehr Erfolg. In der ältesten Stadt im Bergischen Land entdecke ich den Schriftzug einer Supermarktkette. Zwar halte ich den Hinweis der Bäckereifachverkäuferin für ein wenig übertrieben, dass nur an der Theke erstandenes Gut an den Tischen verzehrt werden dürfe, wozu die Scheibe Leberkäse in dem Brötchen tatsächlich nicht zählt, allerdings habe ich nicht den Eindruck, anderen Kunden einen Sitzplatz vorzuenthalten. Da mir jedoch ebenso wenig daran gelegen ist, Ärger zu bereiten wie zu diskutieren, packe ich meinen Einkauf zusammen und mümmele vor der Tür weiter. Ist halt nur etwas frischer. Auch der anschließende Kommentar eines Autofahrers beim Durchqueren einer Einbahnstraße in entgegen gesetzter Fahrtrichtung vermittelt mir den Eindruck, dass man es in Wipperfürth sehr genau nimmt, mit der Einhaltung von Regeln. Ansonsten stelle ich fest: das Bergische Land trägt seinen Namen nicht ohne Grund. Mit Respekt auf tatsächliche Bergregionen wäre Hügeliges Land vielleicht trefflicher, rauf und runter geht es alle Male, doch im Deutschen wird ja umgangssprachlich diesbezüglich weniger streng differenziert.
Dass auf dem Weg nach Breckerfeld gleich mehrere Talsperren die Route säumen zeigt mir nur ein Blick auf die Karte. Hügelkuppen wie Baumkronen halten die Gewässer außer Sichtweite, das Wetter trägt ein Übriges dazu bei, der Verlockung eines erfrischenden Bades mühelos zu widerstehen. Entsprechend komme ich ohne großartige Verzögerungen voran und erreiche mein selbst gestecktes Tagesziel, den Campingplatz oberhalb der Glörtalsperre, gegen halb sechs. Mit siebzig Kilometern auf dem Tageszähler an sich genau der richtige Moment, das Zelt aufzuschlagen. Ein Vorhängeschloss am Schlagbaum in der Zufahrt sowie verwaiste Wohnwagen auf den Stellplätzen sprechen jedoch eine andere Sprache. Ich irre ein wenig umher, versuche eine Menschenseele ausfindig zu machen, werde aber lediglich außerhalb des umzäunten Geländes fündig. Jemand, der seinen Hund ausführt. Ob er wisse, ob es so etwas wie eine Rezeption oder einen Platzwart gäbe. Er weiß. Gar nicht weit entfernt. Den Weg nur ein paar Meter wieder zurück. Dort, wo ein Schild „Rezeption Campingplatz“ vor der Tür steht. Tja, wer lesen kann ist klar im Vorteil. Augen auf beim Erdbeerkauf.
Augenblicke später finde ich mich an besagter Stelle wieder, betätige den Klingelknopf. Nach einer Weile öffnet sich die Tür. Eine alte Frau steht mir gegenüber.
„Ich würde gerne für eine Nacht mein Zelt bei Ihnen auf dem Campingplatz aufschlagen. Und mich unter eine warme Dusche stellen.“
Erwartungsvoll lächele ich die Dame an. Ihre Miene ist finster und sie ändert sich nicht.
„Nein, das geht nicht. Ich kann meinen Mann nicht allein lassen.“
„Ist denn niemand anderes da, der mir weiterhelfen könnte?“
Ich kann kaum glauben, was ich höre. Mir ist nicht zu helfen. Auch weiteres Insistieren bringt nichts. Der Gatte sei ein Pflegefall, sie selbst könne schlecht sehen, ich komme gerade sehr ungelegen. Nur unweit gäbe es aber weitere Campingplätze. Maximal dreißig Kilometer. Gut, die Frau wird selbst lange keine größeren Distanzen mehr in ihrer Nachbarschaft mit dem Rad bewältigt haben oder sie verfügt über eine deutlich bessere Kondition als ich – eine halbe Tagesetappe weg von meinem Ziel ist für mich keine Option und so gebe ich leicht resigniert auf. Muss ich halt doch sehen, ob ich unten an der Talsperre ein lauschiges Plätzchen finde.
Hinunter zum See ist ein Katzensprung. Nach anderthalb Kilometern stehe ich vor der nächsten Übernachtungsbetrieb. Eine Jugendherberge. Wie bereits der Campingplatz erscheint auch sie sich dieser Tage keines großen Zulaufs zu erfreuen. Auf dem Parkplatz stehen kaum Autos, Leute sind keine zu sehen. Ich betätige erneut einen Klingelknopf. Nach einer kleinen Ewigkeit erscheint jemand. Hier ist es eine junge Frau. Ich schildere ihr in knappen Worten mein Anliegen. Radtour über Ostern, Zelt im Gepäck, warme Dusche, am nächsten Morgen wieder weiter. Ob man ein günstiges Zimmer für mich hätte oder einen Flecken, auf dem ich meine Behausung errichten könne. Zimmer? Klar, kein Problem. Günstig? Na ja, günstig ist relativ. Ich müsse jedenfalls Mitglied sein, über einen Jugendherbergsausweis verfügen. Mitgliedschaft im ADFC? Immerhin wirbt man damit, sich zu den „Bett & Bike“ Betrieben zu zählen, womit wiederum irgendwie der Radlerverein involviert ist. Nee, reicht nicht, und mit einem Plätzchen für das Zelt klappt es leider auch nicht. Irgendwelche Auflagen der Feuerwehr oder so etwas. Okay – ich bedanke mich artig, wünsche noch schöne Feiertage und schaue mich außerhalb des Jugendherbergsgrundstücks um. Um den See herum sieht es nicht so richtig gut aus zum Wildcampen. Die Bäume stehen weit auseinander, das gegenüberliegende Ufer ist nicht fern, ein verstecktes Plätzchen nicht zu entdecken. Erst recht nicht am Badestrand. Also noch weiter.
Ich brauche nicht lange zu radeln, dann überquere ich die Volme. Schalksmühle ist nicht fern, ich folge dem Flüsschen jedoch in entgegen gesetzter Richtung, dorthin, wohin das Wasser strömt. Entlang von Landstraße und Bahnlinie findet sich weiterhin kein Platz, der mir für eine Übernachtung geeignet erschiene. Anders sieht es aus, als ich in ein Nachbartal abbiege. Die Straße ist deutlich weniger stark befahren, Schienenverkehr gibt es auch nicht und das fließende Nass ist nur noch ein sprudelnder Bach. Einzig das verfallende Gebäude einer Kleinindustrie am sich entlang ziehenden Wasserlaufs stört ein wenig. Irgendwo habe ich jedoch Glück. Ich entdecke eine größere Wiese am Fuße eines Hanges, an der sich der Bach vorbei schlängelt. Und auf der Wiese steht sogar bereits ein Zelt. Indianische Bauart. Ein ausgewachsenes Tipi. Wie ich mich dem Platz so nähere gibt es sogar jemanden, den ich fragen kann, ob es denn recht sei. Wieder eine Frau, diesmal mittleren Alters. Ich spreche sie an, lasse meinen Spruch zum dritten Mal ab.
„Machen Sie das mit meinem Mann aus.“
Sie ruft ihn herbei.
„Andreas, kommst du mal bitte! Der Liegeradler, den wir gerade überholt haben, steht hier. Er will bei uns übernachten.“
Ein Mann mit langen, grauen Haaren und in einer Jacke, die zum Zelt auf der Wiese passt, erscheint. Diesmal ist alles unkompliziert und einfach. Ich brauche keinen Nachweis über eine Vereinsmitgliedschaft vorzulegen, kann mir den Platz auf der Wiese aussuchen, bekomme gezeigt, wo ich mich mit Wasser versorgen kann, wo ich für den Bedarfsfall eine Toilette finde und werde darüber aufgeklärt, was es mit dem Tipi auf sich hat. Andreas bietet Seminare zum Thema Bogenbau und Bogenschießen an und hat dabei auch schon mal Gäste über Nacht, die dank seiner betuchten Behausung nicht im Freien schlafen müssen. Dass er mir für meine Dusche kein warmes Wasser anbieten kann, stört nur wenig. Es zeigt einmal mehr, mit wie wenig des kostbaren Gutes man auskommen kann und welch kurze Zeit für eine Körperreinigung ausreicht, ist es nur ausreichend frisch. Immerhin ist die Wiese am nächsten Morgen Raureif bedeckt, als ich den Reißverschluss meines Zeltes aufziehe und einen ersten Blick „vor die Tür“ wage. Bereits der Abend deutete es an, als ich vom Schweiß des Tages befreit zeitig den Schlafsack zu und meine Wolljacke über das Fußende zog.
Dem nicht Radreise untypischen Frühstück bestehend aus Müsli und einer Tasse Cappuccino folgt der Aufbruch Karfreitag um kurz vor Zehn. Drei Stunden für Sieben Kilometer sollten trotz zwischenzeitlichem Aufstieg von etwa 200 auf 400 Meter Höhe alles andere als knapp bemessen sein. Sie sind es auch nicht. Die 200 Höhenmeter bleiben natürlich nicht ganz spurlos in den Textilien, doch am anderen Ende bleibt ausreichend Zeit und Gelegenheit, mir frische Wäsche überzuziehen. Eine kurze aber rasante Talfahrt trägt bereits seinen Teil dazu bei, dass nichts nass in die Taschen gestopft werden muss, eine Katzenwäsche am Waschbecken des Restaurants leistet einen übrigen Beitrag, auch olfaktorisch die Spuren einigermaßen zu verwischen.
Die Wartezeit bis zum Eintreffen weiterer Familienmitglieder vertreibe ich mir mit Gesprächen beim Umziehen an frischer Luft sowie einer Tasse Kaffee im Restaurant, um mich aufzuwärmen. Das Interessante an den Begegnungen mit Anwohnern ist, dass ich gleich zwei Einladungen erhalte, bei nächster Gelegenheit doch mein Zelt am Rande eines Forellenteichs aufzuschlagen. Müsste ich für den Zweifelsfall nur noch in Erfahrung bringen, wie ich mich voranmelden kann, damit auch das Vorhängeschloss den Zugang nicht verwehrt.
Der Verzehr der Kiemenatmer selbst im Kreise der Lieben stellt keine große Herausforderung dar. Die Zubereitung braucht in Anbetracht gut gefüllter Gaststuben seine Zeit, der Rest ist im wahrsten Sinne des Wortes schnell gegessen. Nach gemütlichem Aufbruch wird es fast halb vier, dann drehen sich die Räder wieder. Die erste Viertelstunde lang rollen sie mehr oder minder ganz von allein. Entlang des Nahmebachs brauchen Ute und ich nur aufpassen, nicht mit Autos zu kollidieren, was in Anbetracht des Verkehrsaufkommens nicht schwierig ist. Ab Hohenlimburg hingegen wird es unübersichtlicher. Der richtige Weg will gefunden werden. Da der Radtourenplaner NRW nicht davor zurück schreckt, uns Trampelpfade einen Hügel hoch zu lotsen, ein nicht immer ganz einfaches Unterfangen. Einfach dem Instinkt zu folgen wäre vielleicht die einfachere und Höhenmeter ärmere Variante, doch wozu hat man elektronischen Schnick-Schnack, dem man vertraut?
Nach der Abkehr von der Lenne wird es anstrengender. Ein Hügel steht im Weg, auf einem besonders steilen Abschnitt steige ich sogar mit Asphalt unter den Rädern ab und schiebe. Geht schneller und ist weniger Kräfte zehrend. Wie es aber so ist: auf Regen folgt Sonnenschein, dem Anstieg die Abfahrt, und so wehte das Haar im Fahrtwind hinunter zur Ruhr, wenn es denn welches gäbe. Bei weiterhin bedecktem Himmel macht das Ruhrtal seinem Namen alle Ehre. Mit dem Fluss an seiner tiefsten Stelle geht es von dessen Nordufer an wieder aufwärts weiter. Bis Opherdicke zieht sich die Straße einen Hang hinauf, der Ute die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit schonungslos aufzeigt. Als dann noch in Billmerich ein Wagen hinter uns drängelt, ist es um den Ehefrieden fast geschehen. Ich solle doch Platz machen, damit man überholen könne. Mache ich natürlich nicht. Rechts ranfahren, stehen bleiben und neu starten kostet Kraft, die hat der motorisierte Brummer viel mehr als ich. Muss der nur ein wenig Zeit mitbringen. Wird er schon haben. Nicht schlecht staune ich, als Ute nach einer Weile mit den Fahrzeuginsassen quatschend hinter mir auftaucht. Hinter der Windschutzscheibe sitzen Rüdiger und Birgit in ihrem neu erstandenem Cabrio. Sie wollten mal schauen, ob sie uns irgendwo zwischendurch aufgabeln. Erfolgreich gelungen.
Geleitet von den beiden bezwingen wir den Ort, dann fahren wir über die Felder während unsere Freunde ihrem Zuhause auf direkterem Wege entgegen eilen.
Ostersamstag fällt radfahrtechnisch ins Wasser. Es regnet nahezu in einem durch, niemand ist zu motivieren, sich auf einen Drahtesel zu schwingen. Passend dazu empfange ich die Antwortmail der Wuppertaler Nudisten. Es täte ihnen leid, jedoch wird sich Sonntag niemand auf dem Vereinsgelände aufhalten, der uns weiterhelfen könne. Das Wetter. Man wünsche uns aber dennoch alles Gute.
Gut geht es uns in der Tat. Wir werden von unseren Freunden reichlich beköstigt, spielen Karten, blödeln herum und dürfen zwei Nächte unter festem Dach in richtigen Betten verbringen. Mit viel gutem Willen lässt sich das Alternativprogramm als regenerativ bezeichnen. Entsprechend ausgeruht treten wir Ostersonntag in die Pedale. Die Wolken hängen zwar weiterhin tief, doch anders als noch 24 Stunden zuvor bleibt es an diesem Tag trocken. Weitestgehend.
Der Hügel von Unna hinauf nach Billmerich und Opherdicke stellt keine riesengroße Hürde dar. Von Rüdiger und Hündin Sarah begleitet wird der überschaubare Anstieg ohne größere Anstrengungen bewältigt, dann folgt die Abfahrt hinunter an die Ruhr. In dieser Richtung und so kurz nach dem Frühstück absolut kein Problem. Auf dem Ruhrtal Radweg dann die Erkenntnis: wir sind nicht allein. Es gibt noch mehr Verrückte, die Ostern für eine mehrtägige Radtour nutzen. Trotzdem geht es auf dem Radwanderweg ruhig zu. Die Anzahl an Pedalisten sowie Fußgängern bleibt überschaubar, es gibt keinen Streit um die Bodennutzungsrechte. Von Herdecke aus ist es eher eine dunkle Wolke, die um die Lufthoheit ringt. Sie rückt immer näher, doch die wenigen dicken Tropfen, die Ute und ich ab bekommen, halten sich in Grenzen.
Wenige Flussbiegungen hinter dem Kemnader See lassen wir die Ruhr bei Hattingen hinter uns. Mittlerweile ist es fünf. Schluss mit Höhenmeter losem Gestrampel am Ufer entlang, rauf auf den Hügel. Abbiegen auf die Nordbahntrasse. Bislang kenne ich den einstigen Schienenweg nur in Gegenrichtung, doch auch in Richtung Wuppertal ist er gut zu fahren. Nahezu zum Einstieg mit dem Schulenbergtunnel eine sanfte Vorbereitung auf das, was folgt: nahezu 200 Meter Höhenunterschied recht gleichmäßig verteilt auf 15 Kilometer Strecke. Da bleibt die Steigung deutlich unter zwei Prozent und man muss schon fast aufpassen diese zu bemerken.
Während eines weiteren kurzen Schauers treffen wir unter einer Brücke ein weiteres Pärchen mit Taschen bepackten Rädern. Die beiden sind in Gegenrichtung unterwegs, kommen aus Remscheid und wollen nach Münster. Darauf angesprochen, wie sie es denn handhaben, mit der Übernachtung, bekommen wir zu hören, dass man sich über eine Gemeinschaft Gleichgesinnter im Internet etwas organisiert habe. Zwar ist mir mit dem Warmshowers Netzwerk etwas Adäquates bekannt, doch die beiden nennen den Namen eines rein nationalen Pendants. Ein Blick auf ihre App auf dem Smartphone liefert jedoch das gleiche Resultat wie bei den Warmduschern – in Wuppertal gibt es für uns am Wegesrand niemanden, bei dem man anfragen könnte.
Kurze Zeit später spricht Ute eine Frau an, die ihren Hund ausführt. Ob sie ein preiswertes Übernachtungsquartier in der Gegend kenne.
„In Sprockhövel gibt es etwas. Gleich nebenan.“
Der Weg ist in wenigen Worten erklärt, und Momente später stehen wir vor dem Beherbergungsbetrieb. Ein Hotel. Mit 100 € je Nacht jedoch nicht das, was für meinen Geschmack preiswert ist. Entsprechend kehren wir auf die Bahntrasse zurück und radeln weiter. Weiter bis dorthin, wo es für mich laut Karte ländlich aussah und mit einer Wiese zu rechnen ist, auf der wir uns breit machen könnten. Am ersten Bauernhof frage ich nach. Der Herr, der mir die Tür öffnet, kann mir nicht weiterhelfen.
„Ich bin hier nur Mieter. Steht vorne ein Wagen in der Auffahrt?“
Ich verneine.
„Dann ist die Eigentümerin nicht Zuhause. Tut mir leid. Aber ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.“
Zurück auf der Straße läuft uns ein Pärchen mit zwei Hunden über den Weg. Die beiden sind vielleicht ein paar Jahre jünger als wir. Ich versuche mein Glück bei ihnen.
„Wissen Sie ob es hier in der Ecke ein Plätzchen gibt, wo wir für eine Nacht unser Zelt aufschlagen könnten? Irgendwo am Waldrand, oder auf einer kleinen Wiese, nicht ganz so auf dem Präsentierteller?“
Die beiden schauen sich an. Ratlose Blicke.
„Oder kennen Sie einen Bauern, bei dem wir nachfragen könnten?“
Die Reaktion ist nicht deutlich vielversprechender. Nachdem die beiden sich ein weiteres Mal tief in die Augen schauen, keimt Hoffnung auf.
„Hm, ich habe da gerade einen Acker umgegraben, aber vielleicht haben wir etwas für Sie. Kommen Sie mal mit.“
Wir folgen den beiden ein Stück den Weg zurück, den wir gekommen waren und kommen ins Gespräch. Berichten von unserer Tour, von zurück liegenden Touren und davon, was wir hinsichtlich Übernachtungen schon erleben durften. Vor einem ehemaligen Bahnhofsgebäude bleiben wir stehen.
„So, da wären wir. Dann ladet mal ab. Die Räder könnt Ihr in die Garage stellen. Ich fahre nur gerade das Auto raus.“
Irgendwie muss ich etwas nicht mitbekommen haben, was die Frauen miteinander besprachen. Gehe ich noch davon aus, irgendwo in einem Garten das Zelt aufzuschlagen, hat sich die Angelegenheit bereits weiter entwickelt – wir sind eingeladen, uns im Gästezimmer niederzulassen, in dem uns ein riesiges Wasserbett erwartet. Dusche und Toilette befinden sich gleich nebenan. Und während ich noch überlege und hadere, wie ich nachfrage, ohne dass es unverschämt klingt, ob ich mich in der Küche bedienen könne, um unser Abendessen zu erwärmen – das Dosenfertiggericht im Schlafgemach auf dem Spirituskocher zuzubereiten sieht schließlich auch etwas schräg aus – da sind wir auch schon zum Essen eingeplant. Marc hat das Messer in der Hand, ein Brett sowie reichlich Fleisch und frischen Spargel vor sich und weiß mit den Dingen umzugehen. Er ist Koch von Beruf. Wie Ute. Entsprechend ist ein Thema gefunden, über das sich fachsimpeln lässt. Schnell wechselt ein Wort das andere, wir kommen von Hölzchen auf Stöckchen und erfahren schließlich, dass Anke und Marc selbst noch nicht all zu lange ihre ausgefallene Bleibe bewohnen.
Ein erster Blick am nächsten Morgen aus dem Fenster macht es mir schwer, nicht lautstark los zu prusten. Noch am Vorabend wollte ich wissen, wie die Landschaft mit seinen Hängen im Winter aussieht. Ostermontagmorgen bekomme ich die eindrucksvolle Antwort. Genau so! Über Nacht hat es geschneit. Soweit ich aus dem Fenster schauen kann, ist es weiß. Weiße Wiesen, weiße Wege, weiße Bäume. Bahnhof Schee im Schnee. Schön!
Ein wenig schlechtes Gewissen bekomme ich, als Ute und ich uns zum Frühstück erneut in der Küche beziehungsweise am Esstisch einfinden. Was Anke und Marc auftischen, kann mit einem Buffet im Hotel konkurrieren: Käse, Wurst, Fisch, Eier, Süßes, frisch aufgebackene Brötchen, Kaffee, Tee. Von allem reichlich und wahrscheinlich noch mehr. Beruhigen tut mich lediglich, das alles auch ohne unser Erscheinen irgendwo im Hause gewesen sein muss. Für mich unvorstellbar. Ohne Vorankündigung enthält unser Kühlschrank selten mehr, als für drei Tage benötigt wird. Bei deutlich reduzierterer Auswahl. Und im Zelt wäre die Entscheidung noch leichter gefallen, was es gegeben hätte: eine weitere Portion Müsli sowie eine Tasse Instant-Cappuccino oder halt nichts.
Als Obdachsuchende kennengelernt verabschieden wir uns als Bahnhofspenner mit reichlich gefüllten Mägen um halb elf von unseren Gastgebern. Die Schlussetappe ruft. Noch gute 80 Kilometer wollen bewältigt werden. Rechtzeitig zum Start beginnt der Schnee zu schmelzen. Die restlichen Meter Nordbahntrasse sind noch einfacher zurück gelegt als die ersten. Mit dem Scheeer Tunnel ist zügig der Scheitelpunkt des Hügels überschritten, anschließend geht es talwärts an die Wupper. An der Endhaltestelle der Schwebebahn in Oberbarmen überqueren wir den Fluss, folgen ihm ein Stück weit aufwärts, dann knicken wir hinter den Vorwerk Werken rechts ab. Entlang des Marscheider Bachs gelangen wir durch ein grünes Tal an den Ortsrand von Lüttringhausen. Schon bei meiner ersten Fahrt auf diesen wenigen Kilometern war ich begeistert. In Gegenrichtung durchquerte ich gerade noch das Betriebsgelände eines Stahlwerks und kaum lag der Tunnel, der die A1 unterquert, hinter mir, hatte ich Natur um mich herum. Natur und Stille. In Richtung Remscheid ist es zwar ein wenig anstrengender, immerhin will der Weg zum Tunnel hinauf erklommen werden, den ich mich die Male zuvor herunter rollen ließ, doch die Ruhe mit dahin plätscherndem Bach an der Seite und Blätterdach über den Köpfen ist wohltuend. Dass sich vereinzelt auch mal eine sich verflüchtigende Schneeflocke aus den Ästen auf unsere Nasenspitzen verirrt schmälert das Vergnügen zumindest nicht.
Während auf der Autobahn nebenan ein Wagen nach dem anderen dahin schwindet, kurbeln Ute und ich auf wenig befahrenen Wegen gen Lennep. Ab dem dortigen Bahnhof brauchen wir uns um motorisierte Verkehrsteilnehmer nur noch an den Stellen zu kümmern, an denen die Balkantrasse eine Straße kreuzt beziehungsweise, wie in Wermelskirchen, der einstige Schienenweg nicht Radlern überlassen wurde und wir zusammen mit den Autos durch den Ort geleitet werden. Entsprechend fallen die knapp 30 Kilometer über Burscheid bis Leverkusen Opladen leicht. Bei sanftem Gefälle von etwa 330 auf 50 Meter Höhe über Null radelt es sich überwiegend kraftlos. Viadukte und Tunnels glätten das Streckenprofil, die Kurven sind weit geschwungen und auf der Piste nicht viel los. Gerne dürfte es bis an den Rhein so weitergehen, statt dessen durchqueren wir jedoch Wohngebiete und passieren das Bayer Werksgelände. Immerhin bleibt uns das Wetter jedoch wohl gesonnen. Wir brauchen weder gegen Wind noch gegen Regen anzukämpfen. Bekannte Pfade bilden schließlich den Abschluss der Tour. Ab Köln Stammheim haben wir den Rhein zur Rechten. In Deutz wird es noch einmal voll, als wir an der Osterkirmes vorbei kommen, im Poller Fischhaus sitzen wir bei Currywurst und Schnitzel einen Schauer aus und gegen viertel nach sieben stehen wir dort, wo ich vier Tage zuvor gestartet war – vor der heimischen Haustür. Dass Ross und Reiter 300 Kilometer mehr auf dem Buckel haben? War absehbar. Dass es gelang, zwei Traditionen miteinander zu verbinden? War das Ziel der Tour, sofern es denn eines bedarf. Dass sich einmal mehr zeigte, auf welch hilfsbereite Mitmenschen man stoßen kann? Ein Aspekt, der diese Form des Reisens so interessant macht – auch ohne neue Vereinsbeitritte …